Ein diskreter Held
dass er alles andere als überzeugt war, dass er sich nicht im Geringsten auf die Reisefreute und es für ihn tatsächlich ein Opfer bedeutete. Er fragte ihn, ob die Probleme, die er gehabt habe, gelöst seien, und sogleich bereute er es, denn im selben Moment huschte ein Anflug von Sorge oder Trauer über das Gesicht dieses kleinen Mannes.
»Zum Glück ist alles geklärt«, murmelte er. »Ich hoffe, die Reise hilft zumindest, dass die Menschen in Piura mich vergessen. Sie wissen nicht, wie schrecklich es ist, wenn man auf einmal bekannt ist, wenn man in den Zeitungen und im Fernsehen vorkommt und die Leute in der Stadt auf einen zeigen.«
»Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte Rigoberto und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Er rief den Kellner und bestand darauf, die ganze Rechnung zu bezahlen. »Wir sehen uns im Flugzeug. Ah, da kommen meine Frau und mein Sohn, sie suchen nach mir. Also, dann bis gleich.«
Sie gingen zum Flugsteig, noch hatte das Einsteigen nicht begonnen. Rigoberto erzählte Lucrecia und Fonchito, dass die Yanaqués auf Einladung von Armida nach Europa reisten. Seine Frau war gerührt über die Großzügigkeit der Witwe von Ismael Carrera.
»So etwas sieht man heute kaum noch«, sagte sie. »Wenn wir im Flugzeug sind, gehe ich zu ihnen und begrüße sie. Sie haben die Frau für ein paar Tage aufgenommen und nicht geahnt, dass sie mit ihrer guten Tat das große Los gezogen haben.«
Im Duty-Free hatte sie mehrere Kettchen aus peruanischem Silber gekauft, als Souvenir für nette Leute, die sie auf der Reise sicher kennenlernten, und Fonchito eine DVD von Justin Bieber, diesem kanadischen Sänger, der die Jugendlichen auf der ganzen Welt verrückt machte, er wollte sie sich im Flugzeug auf seinem Rechner ansehen. Rigoberto blätterte im Economist , dachte dann aber, dass es besser wäre, das Buch zur Hand zu haben, das er als Lektüre für den Flug ausgewählt hatte. Er öffnete seinen Reisekoffer und nahm ein altes Exemplar heraus, erstanden bei einem Bouquinisten am Ufer der Seine, einen Essay von André Malraux über Goya: Saturne . Seit vielen Jahren wählte er sorgfältig aus, was er im Flugzeug las. Die Erfahrunghatte ihn gelehrt, dass er während eines Fluges nicht einfach irgendetwas lesen konnte. Es musste eine mitreißende Lektüre sein, die seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nahm, dass es jene unterschwellige Angst aufhob, die hervorbrach, wann immer er flog und nur daran dachte, dass er sich, dahingleitend mit einer Geschwindigkeit von neunhundert oder tausend Kilometern pro Stunde, in zehntausend Metern Höhe befand – zehn Kilometern! – und dass dort draußen Temperaturen von fünfzig oder sechzig Grad unter null herrschten. Es war eigentlich keine Angst, wenn er flog, sondern etwas Heftigeres, die Gewissheit, dass dies jeden Moment das Ende sein konnte, die Auflösung seines Körpers binnen eines Sekundenbruchteils und vielleicht die Offenbarung des großen Mysteriums, die Antwort auf die Frage, was es jenseits des Todes gab, wenn es denn überhaupt etwas gab, eine Möglichkeit, die er mit seinem alten, von den Jahren kaum gemilderten Agnostizismus eher ausschloss. Aber manche Lektüre schaffte es, dieses unheilvolle Gefühl auszublenden, ihn so zu fesseln, dass er alles andere vergaß. So war es ihm mit einem Roman von Dashiell Hammett ergangen, mit Italo Calvinos Sechs Vorschlägen für das nächste Jahrtausend , Claudio Magris’ Donau oder als er noch einmal Henry James’ The Turn of the Screw las. Diesmal hatte er Malraux’ Essay gewählt, weil er sich daran erinnerte, wie sehr ihn die Lektüre beim ersten Mal ergriffen hatte und wie er danach fieberte, die Fresken aus der Quinta del Sordo und die Radierungen – Die Schrecken des Krieges , die Caprichos – nicht in den Büchern auf Reproduktionen zu sehen, sondern in natura. Jedes Mal, wenn er im Prado gewesen war, hatte er sich in den Goya-Sälen aufgehalten. Noch einmal den Essay von Malraux zu lesen gäbe einen schönen Vorgeschmack auf dieses Vergnügen.
Toll, dass diese ganze unangenehme Geschichte endlich vorbei war. Er war fest entschlossen, nicht zu erlauben, dass etwas, was auch immer, die nächsten Wochen verdarb. Alles sollte angenehm sein, wohltuend und schön. Welch wunderbarer Gedanke: von niemandem behelligt zu werden, nichtszu sehen, was deprimierend, ärgerlich oder hässlich war, alle Ortswechsel so zu organisieren, dass er einen Monat lang immer das Gefühl hatte, Glück wäre möglich, und
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