Ein diskreter Held
bestätigt: es war die schönste Hommage an die Musik, die er kannte, ein Gedicht, das, während es die unerklärliche Wirklichkeit der Musik erklärte, seinerseits zu Musik wurde. Eine Musik aus Gedanken und Metaphern, die kluge Allegorie eines gläubigen Menschen, die, indem sie dem Leser jenes unbeschreibliche Gefühl eingibt, das geheime, transzendente, höhere Sein offenbart, das in einem Winkel des menschlichen Tieres wohnt und sich dem Bewusstsein nur zeigt in der vollkommenen Harmonie einer wunderschönen Sinfonie, eines tiefen Gedichts, einer großartigen Oper, einer herausragenden Ausstellung. Ein Gefühl, das für Bruder Luis, den Gläubigen, nicht zu unterscheiden war von der Gnade und der mystischen Trance. Wie wohl die Musik des blinden Organisten klang, für den Fray Luis de León dieses herrliche Lob schrieb? Er hattesie nie gehört. Das war’s, jetzt hatte er eine Aufgabe für die Tage in Madrid, er musste unbedingt eine CD mit den Kompositionen des Francisco de Salinas besorgen. Sicher hatte eines der Ensembles, die sich der alten Musik verschrieben – das von Jordi Savall zum Beispiel – eine Aufnahme dem Mann gewidmet, der einst ein solches Wunderwerk inspirierte.
Er schloss die Augen und dachte, dass nur noch wenige Stunden fehlten, und Lucrecia, Fonchito und er würden durch die Lüfte fliegen, die dichten Wolken von Lima hinter sich lassen, die aufgeschobene Reise nach Europa beginnen. Endlich! Bei ihrer Ankunft wäre es schönster Herbst. Er stellte sich das Gold der Bäume vor und das Pflaster der Straßen, geschmückt mit den von der Kälte abgelösten Blättern. Es kam ihm unglaublich vor. Vier Wochen, eine in Madrid, eine in Paris, eine weitere in London und die letzte in Florenz und Rom. Er hatte diese einunddreißig Tage auf eine Weise geplant, dass das Vergnügen nicht durch Ermüdung Schaden nahm, hatte allen Unwägbarkeiten, die einem die Reise verleiden, so gut es ging vorgebeugt. Hatte die Flüge gebucht, die Eintrittskarten für Konzerte, Opern und Ausstellungen gekauft, Hotels und Pensionen im Voraus bezahlt. Es wäre das erste Mal, dass Fonchito den Kontinent von Rimbaud betrat, das Europa aux anciens parapets . Und ein besonderes Vergnügen wäre es ihm, seinem Sohn den Prado zu zeigen, den Louvre, die National Gallery, die Uffizien, den Petersdom, die Sixtinische Kapelle. Ob er bei all den schönen Dingen wohl das Unheil der letzten Zeit vergessen konnte, die gespenstischen Erscheinungen von Edilberto Torres, diesem Inkubus oder Sukkubus (was war noch mal der Unterschied?), der ihm und Lucrecia das Leben so schwer gemacht hatte? Er hoffte es. Dieser Monat wäre ein reinigendes Bad, die Familie würde die schlimmste Phase ihrer Existenz abschließen. Und alle drei kehrten sie verjüngt, wiedergeboren nach Lima zurück.
Er musste an das letzte Gespräch mit Fonchito in seinem Arbeitszimmer denken, zwei Tage vorher, und wie der Junge auf einmal anfing zu klugscheißen:
»Wenn dir Europa so gefällt, wenn du Tag und Nacht davon träumst, warum hast du dann dein ganzes Leben in Peru verbracht, Papa?«
Die Frage verwirrte ihn, verschlug ihm die Sprache. Er fühlte sich schuldig, wusste aber nicht, wieso.
»Na ja, ich glaube, wenn ich dort gelebt hätte, hätte ich all die schönen Dinge des alten Kontinents nie so genossen«, versuchte er sich vor einer Antwort zu drücken. »Ich hätte mich so an sie gewöhnt, dass ich sie nicht einmal bemerkt hätte. Nicht anders ergeht es Millionen von Europäern. Wie auch immer, es ist mir nie in den Sinn gekommen. Für mich war immer klar, dass ich hier leben muss. Mein Schicksal annehmen, wenn du so willst.«
»Alle Bücher, die du liest, sind von europäischen Schriftstellern«, ließ sein Sohn nicht locker. »Ich glaube, die meisten CDs, Zeichnungen und Bilder auch. Von Italienern, Engländern, Franzosen, Spaniern, Deutschen, auch ein paar Nordamerikanern. Aber was gefällt dir eigentlich an Peru, Papa?«
Rigoberto wollte sich schon verwahren, doch, sehr vieles, aber dann entschied er sich für ein unschlüssiges Gesicht und eine übertrieben skeptische Handbewegung:
»Drei Dinge, Fonchito«, sagte er, und mit dem Pathos eines gelehrten Meisters: »Die Gemälde von Fernando de Szyszlo. Die französischen Gedichte von César Moro. Und die Garnelen aus dem Majes natürlich.«
»Mit dir kann man nicht ernsthaft reden, Papa«, protestierte sein Sohn. »Ich glaube, du machst dich nur lustig, weil du dich nicht traust, mir die Wahrheit
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