Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
Bibliothek diese Bücher ausgeliehen? Das wäre ja so, als wollte er sich selbst anzeigen! Die hat er doch ausgeliehen, bevor er wusste, wie man es anstellt!, protestierte Ziegen-Jesus.
Eines Morgens zwischen den Jahren erhielt Arvid Lunde einen Anruf, als er sich in der Inkognitogate gerade rasieren wollte. Ein Kollege von der Shell-Tankstelle war am Apparat. Er sagte, für Lunde werde es jetzt eng. Hätte er noch einen Funken Verstand, sollte er schleunigst das Land verlassen. Er wollte nur Bescheid sagen. Arvid Lunde fragte, was vorgefallen sei. Der Kollege erzählte, der Tankstellenbesitzer habe die Polizei gerufen, nachdem er in der Kasse mehrere verschmutzte Geldscheine gefunden hatte. Die Theorie der Polizei sei nun, Arvid Lunde habe das erbeutete Geld aus einem oder mehreren Überfallen vergraben, vermutlich hatte er mehrere Geldlager. Während der Nachtschicht hatte er versucht, das verschmutzte Geld gegen saubere Geldscheine aus der Kasse zu tauschen. Arvid Lunde legte den Hörer auf, setzte sich einen Moment und dachte nach.
Wir können es natürlich nicht wissen, aber wir haben uns überlegt, dass Arvid Lunde in dem Moment, genau in dem Moment, begriffen hat, dass er folgende Wahl hat: Er konnte gestehen oder weiterhin leugnen. Er entschied sich fürs Leugnen. Vermutlich hatte er jetzt so oft gelogen, er hatte sich fast durch die ganzen Achtzigerjahre geblufft, er hatte nichts auf die Reihe gekriegt, hatte Unwahrheiten und Halbwahrheiten von sich gegeben. Wir wissen, dass es schwer ist, mit so etwas aufzuhören. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Männer mehr lügen als Frauen, im Schnitt lügen Männer dreimal am Tag. Hier folgt Arvid Lundes erste Lüge am heutigen Tag. Er ging zu Grace und Robby ins Wohnzimmer und sagte, er müsse kurz los, was besorgen. Er habe keinen Rasierschaum mehr. Soll ich sonst noch was mitbringen?, fragte er. Grace schüttelte den Kopf, Robby spielte mit einem Plüschkaninchen. Arvid Lunde blieb in der Tür stehen, ihm muss klar gewesen sein, dass er seine Frau und seinen Sohn das letzte Mal sah. Zumindest muss er es in dem Moment gedacht haben. Er sagte kurz tschüss , dann ging er hinaus, und Grace hörte, wie die Tür fest zugezogen wurde.
An jenem Tag wurde auf Arvid Lunde ein Haftbefehl ausgestellt. Die Polizei wollte ihn auf frischer Tat ertappen, sie hatte ihn observiert, seit er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, aber er hatte nichts Verdächtiges getan, bis die Sache mit den verschmutzten Geldscheinen zur Sprache kam. Zwei Zivilfahrzeuge der Polizei hatten die Inkognitogate rund um die Uhr überwacht, plötzlich wussten sie nicht mehr, wo der Mann abgeblieben war. Ein paar Wochen später stand in der Zeitung zu lesen, Arvid Lunde habe sich durch den Hinterausgang geschlichen und sei in hohem Tempo die Inkognitogate hinuntergerannt. Er sei mit der Straßenbahn zum Autoverleih Frogner gefahren und habe sich einen VW Passat besorgt. Er habe Oslo im Osten verlassen, sei dann Richtung Süden nach Østfold gefahren, vermutlich weit unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, um nicht von einer Verkehrskontrolle angehalten zu werden. Am nächsten Morgen entdeckte die Polizei mitten auf der Svinesundbrücke einen Passat. Der Wagen war leer und roch so, wie alle Mietfahrzeuge rochen. Eine Tür stand halb offen. Im Handschuhfach lag ein handgeschriebener Brief: Es tut mir leid, dass ich diesen Schritt gehen muss, aber mein Leben ist vorbei. Ich sehne mich nach einer friedlichen Landschaft, ich sehne mich nach grünem Gras unter den Füßen .
Je älter wir werden, desto weniger wissen wir über das Leben. So ist es nun mal, und diese Geschichte kommt zu ihrem Schluss. Wir wissen, dass wir mal hierhin, mal dorthin gesprungen sind, zehn lange Jahre sind wie im Flug vergangen, und wir haben uns ganz sicher manchmal verzettelt und nicht alles mitgekriegt, wir hoffen nur, dass es uns geglückt ist, Arvid Lunde zum Leben zu erwecken. Denn jedes Leben ist eine Geschichte über das Leben anderer. Nehmen wir zum Beispiel die Valiumwalze. Eines schönen Tages stolperte er zu Hause auf der Treppe und blieb liegen. Drei Tage später wurde er gefunden, davor hatten wir im Schmelzer Alarm geschlagen, drei Abende ohne die Valiumwalze waren Anlass zu höchster Sorge. Und all die anderen? Fräulein Mowinckel ging im Alter von 70 Jahren in Pension und zog wieder nach Bergen, wo sie oben im Lille Starefossveien ein Haus geerbt hatte. Vielleicht ist sie mittlerweile
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