Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
verstorben, keine Ahnung. Der Disharmoniker? Ja, der Typ ist anscheinend ausgetickt, als Arvid Lunde aus Odda weggezogen ist. Ein paar Monate später verließ er seine Familie und zog in einen Wohnwagen, der vorm Gymnasium stand. Den ganzen Tag und die halbe Nacht übte er auf seiner Bratsche. Nach allem, was wir wissen, hat er bisher aber keinem Symphonieorchester vorgespielt. Blondie aus dem Sørfjordheim hat endlich ihre Fahrkarte aus Odda weg gefunden, sie hat sich in einen amerikanischen Jazztrompeter verliebt, der nach Odda gekommen war, um in einem norwegischen Kurzfilm mitzuspielen. Jetzt leben sie in New Orleans. Ingrid hat mit dem Diesel zusammen drei Kinder, sie haben die Tankstelle in Lofthus zu einer Pension erweitert, die Geschäfte laufen nicht schlecht, und sie verdienen gutes Geld, wie wir der jährlichen Steuerliste des Finanzamts entnehmen können. Grace Mikkelsen hat im Hegdehaugsveien einen Taschenladen eröffnet, das haben wir in einer Illustrierten gelesen: Endlich mache ich mein eigenes Ding , sagte sie und erzählte noch einmal von ihrem merkwürdigen Zusammenleben mit Arvid Lunde. Ich habe es auf die harte Tour gelernt, aufzustehen und neue Schritte zu wagen , sagte sie in dem Interview. Robby Lunde könnte jetzt 24 sein, wir haben keine Ahnung, was der Junge so treibt. Die Leute behaupten, er sehe seinem Vater ähnlich.
Der skurrilste Teil der Geschichte steht aber noch aus. Denn Arvid Lundes Leiche wurde weit weg von dem verlassenen Passat gefunden. Wenn man es genau nimmt: 462 Straßenkilometer von der Svinesundbrücke entfernt. Gefunden wurde er mehrere Tage nach dem Selbstmord, am Vormittag des 2. Januar 1990. Ein französisches Frachtschiff kam den Sørfjord herein, um am Kai des Schmelzwerks Kalkstein abzuladen, als der Kapitän im Wasser einen menschlichen Körper zu sehen meinte. Der Kapitän verständigte die Oddaer Polizei, die rasch ein kleines Motorboot organisierte und die Leiche aus dem Wasser fischte. Die Polizei war erleichtert, endlich den Fremden gefunden zu haben, der am Vortag oben bei Monso in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen war. Doch auf die Polizei wartete eine Überraschung, als die Gerichtsmediziner nach der Obduktion im Universitätsklinikum von Bergen das Ergebnis bekanntgaben: Es war Arvid Lundes Leiche. Arvid Lunde? Wie kann man sich die 462 Kilometer erklären? Wie kann sich ein Mann in Ostnorwegen von einer Brücke stürzen und in einem Fjord in Westnorwegen gefunden werden? Die Polizei stellte sich natürlich dieselben Fragen, sie setzte sich hin und studierte alle zugänglichen Informationen, sie malte Pläne, zeichnete sie auf Tafeln. Schließlich fand sie zu einer plausiblen Erklärung, was an dem Tag passiert sein konnte.
Um die Ereignisse zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle die Halspastille einführen. Es tut uns leid, dass wir die Halspastille erst so spät bringen, hier kommt sie jedenfalls. Die Halspastille arbeitete viele Jahre lang im Schmelzwerk von Odda, er gehörte zu jenen, die zu nichts zu gebrauchen waren und trotzdem eine Vollzeitstelle hatten. Eine Zeitlang hatten wir jede Menge dieser Typen in den Fabriken, Leute, die eigentlich kontraproduktiv waren, die aber jeden Tag zur Arbeit kamen. Sie fegten ein wenig, räumten in den Ecken auf, spülten den Dreck weg, füllten die Kaffeeautomaten, putzten die Bäder, werkelten in den Toiletten. In Odda wurden solche Leute fast immer vom Sozialamt finanziert, die Fabriken bekamen Geld dafür, dass sie diese Leute beschäftigten, die Arbeitgeber legten noch ein paar Kronen drauf. Es war besser, dass sie Teil des Kollektivs waren, einem System zugeordnet, als dass sie draußen frei herumschwammen. Gingen sie zur Arbeit, wussten wir wenigstens, was sie so trieben. Es kam sogar vor, dass sie das eine oder andere hinbekamen. Wir hatten mit der Halspastille viel Spaß. Er kaufte sich zum Beispiel ein Moped, das er frisierte und das er hegte und pflegte, als wäre die kleine Maschine ein teures Erbstück. Keiner von uns wusste, wie die Halspastille es geschafft hatte, den Mopedführerschein zu bestehen, aber jeden Morgen und jeden Nachmittag fuhr die Halspastille durch Odda. Er war auf dem Weg zur Arbeit. Er war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Er war auf dem Weg zum Einkaufen. Die Halspastille stellte das Moped immer auf dem Schmelzwerkgelände ab, er hatte Angst, jemand könnte die Wundermaschine stehlen. Kurz nachdem die Halspastille sich das Fahrzeug zugelegt hatte, kam Harry auf
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