Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
Halspastille hat keine Vorfahrt, ist aber zu sehr damit beschäftigt, sich die Lieder und Texte in Erinnerung zu rufen, die Phrasierungen, wann er mit der Stimme nach oben muss, wann nach unten, der Teufel steckt im Detail, das weiß die Halspastille, darum muss er sich alles in Erinnerung rufen, und er biegt viel zu schnell in die Hauptstraße ein. Direkt auf ihn zu kommt Arvid Lunde auf einem großen Motorrad, Arvid Lunde, der sich von der Svinesundbrücke gestürzt hat und eigentlich ein toter Mann ist. Arvid Lunde, der einen Brief hinterlassen hat, in dem er kurz erklärt hat, warum sein Leben vorbei ist. Erstaunlicherweise hat er es geschafft, dieses Leben um ein paar Stunden zu verlängern, vielleicht ist er einfach nicht der Typ, es wegzuwerfen, er ist kein Selbstmordkandidat, er ist ein Optimist, ein Emporkömmling, ein leise Singender, einer, der weitermacht und weitermacht, ein Mann, der an diesem Nachmittag oben in Odda über die Brücke rast.
Im Morgengrauen hat Arvid Lunde seinen handschriftlichen Selbstmordbrief in einem VW Passat hinterlassen und das Motorrad aus dem Kofferraum geholt, den Rücksitz hatte er umgeklappt, damit eine Honda 750 darin Platz fand. Als toter Mann ist Arvid Lunde durch den Regen gerast, zurück nach Halden, durch Østfold, durch Oslo, über Haukeli. Zum Glück ist es ein milder Winter, man kann mit dem Motorrad problemlos durch die Berge fahren. Lehrer und Spekulant Arvid Lunde sind nun Geschichte, trotzdem hat er in Drammen noch eine Lucky Strike geraucht, hat in einem Laden in Seljord einen Burger gegessen, in der Haukeli Fjellstove eine Tasse Kaffee getrunken, es sollte sich herausstellen, dass es seine allerletzte war. Jetzt singt er sich die Kurven nach Røldal hinunter, er starrt in den Dezemberhimmel, an dem es schon dämmert, er sieht die Lichter von Odda, einem der wichtigsten Orte Norwegens, in dem er die ersten Jahre der fabelhaften Achtziger gelebt hat. Im Lack der Honda spiegeln sich der hohe Himmel, die hohen Berge, ein ganzer Tag, ein ganzes Leben. Arvid Lunde hätte gern angehalten, und sei es nur aus Gründen der Sentimentalität, nur für fünf Minuten, aber er ist unter dem Helm ein toter Mann, er ist ein Geist, der nicht anhalten darf. Wenn er anhält und erkannt wird, läuft er Gefahr, der lebendigste Mann zwischen den Bergen Oddas zu sein. Er will auf seiner Honda weiter bis nach Bergen, will mit dem Schiff nach Newcastle, irgendwo in der englischen Provinzstadt verschwinden, in einer friedlichen Landschaft mit grünem Gras unter den Füßen, will den Rest seines Lebens als toter Mann verbringen. Als Arvid Lunde das Moped sieht, ist es zu spät, er bremst und sein Motorrad rutscht weg, er tritt auf die Bremse, er hat keine Möglichkeit, die Honda auf der Straße zu halten, ihm ist klar, dass er die Kontrolle verliert und von der Straße rutscht. Er bricht nach rechts aus, rollt die Böschung hinunter und stürzt in den Fluss, in den kalten Fluss, der durch das Zentrum von Odda fließt. Es geht ganz schnell, er hat keine Zeit zum Nachdenken. In ihm explodiert das Blut, und Arvid Lunde stirbt zum zweiten Mal an diesem Tag.
Man lebt nur einmal. Oder: Arvid Lunde hat versucht, sich ein zweites Leben zu verschaffen, aber wir haben gesehen, wie es ausging. Man lebt also nur einmal, aber man wird viele Male verurteilt. Wie sollen wir Arvid Lunde charakterisieren? Wie können wir den Mann beschreiben? Was war passiert? Schwer zu sagen. Fast unmöglich zu erklären. Bei der Beerdigung sprach der Pfarrer von der Vielfalt menschlichen Lebens und von der Unmöglichkeit, Leute nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Die Oddaer Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, wir saßen auf den harten Bänken und sangen laut, bis die Glocken läuteten und der Sarg zum Friedhof in Berjaflot gefahren wurde, vermutlich auf Arvid Lundes eigenen Wunsch. Er wollte in Odda begraben werden. Es geschah am achten Tag des neuen Jahres, am achten Tag eines neuen Jahrzehnts. Über Hardanger hing eine ungewöhnlich dunkle Wolkendecke. Ein paar Haare standen vom Kopf des Pfarrers ab, als der Sarg in der schwarzen Mulde verschwand.
Einige Wochen später kam ein schlichter Stein neben das frische Grab: RUHE IN FRIEDEN. Was sollte man sonst sagen? Wir wissen es nicht. Arvid Lundes Name ist ohnehin in einen geheimnisvollen Glanz getaucht, sein Leben ist wie eine Saga, die bei schummriger Beleuchtung erzählt wird, aus einem Buch vorgelesen, das seinen Platz im Regal hat. Ständig kommen
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