Ein Engel fuer Emily
eigenes Zimmer besorgen.
Sobald sie den Friseurladen verlassen hatten, führte sie ihn möglichst weit weg von ihrem Gasthof ans andere Ende des Ortes. Gab es hier nicht ein kleines Hotel oder eine Pension?
Er trottete ihr nach. »Emily«, rief er, und sie drehte sich zu ihm um. Er war vor einem Schaufenster stehen geblieben und betrachtete die Kleider. »Da.« Er deutete auf die Schaufensterpuppe auf der linken Seite. »Das ist es.« Ehe Emily begriff, wie ihr geschah, befand sie sich in der Kabine der Boutique und probierte ein himmlisches Kleid an.
Jetzt saßen sie in der Eisdiele - Michael hatte ihre Einwände, ein Banana Split sei kein ordentliches Mittagessen, ignoriert -, und Emily hatte ein cremefarbenes Seidenkleid mit wunderschönem Blumenmuster und ein kleines rostfarbenes Jäckchen an. Der dazu gehörende Gürtel war mindestens sieben Zentimeter breit und hatte eine Perlmuttschnalle.
Emily war sich bewusst, dass dieses Kleid das unpraktischste war, das sie jemals getragen hatte. Die Farbe war ungeheuer empfindlich, und das Oberteil, ein Mieder, hatte keine Knöpfe, sondern war mit einer Kordel im Zickzack geschnürt, und wenn sie sich vorbeugte, konnte man viel zu viel sehen. Das Mieder war insgesamt zu eng - es gab mehr von ihrer Figur preis, als sie zeigen wollte.
»Sie sehen wunderbar aus«, sagte Michael. »Hören Sie auf, sich Gedanken deswegen zu machen. Ich mag Ihr Haar, wenn Sie es offen tragen. Es sieht viel besser aus ohne Band. Die Frauen der Skythen hatten immer wunderschönes Haar, und als Sie eine elisabethanische ...«
»Als ich was?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Ich ... äh ... ich wollte sagen, Sie sehen ... Wie schmeckt Ihr Eis?«
Sie schaute auf die riesige ovale Schale und lächelte. »Ich hatte heute viel Spaß«, sagte sie.
»Ich auch. Ich habe Sie doch nicht zu sehr in Verlegenheit gebracht mit meinen Wortverwechslungen?»
»Selbstverständlich nicht. Alle Welt mag Sie.« Das stimmte. Er hatte eine Art, die den Menschen Ruhe und Gelassenheit vermittelte. Die Kassiererin in der Boutique war zuerst ziemlich unfreundlich gewesen und hatte deutlich gezeigt, wie lästig es ihr war, die Preise ihrer Einkäufe in die Kasse zu tippen. Aber Michael hatte ihr tief in die Augen gesehen und ihr die Sachen gereicht. Dabei hatte er kurz mit den Fingerspitzen ihre Hand berührt; augenblicklich legte sich ihr Unmut, und sie strahlte ihn an.
»Wie machen Sie das?«, fragte Emily jetzt. »Wenn Sie jemanden berühren, wird er ruhiger, zugänglicher und ...« Sie hielt inne und funkelte ihn an. Wenn er ihr jetzt erzählte, dass er ein Engel sei, würde sie aufstehen und gehen.
Aber er bedachte sie nur mit einem Lächeln. »Gedanken haben eine große Kraft. Man kann eine Person dazu bringen, das zu fühlen, was man selbst fühlt. Geben Sie mir Ihre Hand. Und jetzt versuchen Sie, mir ein Gefühl zu vermitteln. Irgendein Gefühl.«
Sie nahm seine kräftige rechte Hand in ihre, schaute ihm in die Augen und sandte ihm ihre Gedanken.
Nach wenigen Sekunden lachte er und ließ ihre Hand los. »Gut, ich habe Ihre Botschaft verstanden. Sie haben Hunger und wollen meine Hand nicht länger anfassen. Ich nehme an, Ihrem Scha ...« Er brach grinsend ab. »Ich nehme an, dem Mann, den Sie lieben, würde es nicht ge-fallen, wenn Sie mit einem anderen Händchen halten, im selben Zimmer mit ihm übernachten, den Tag mit ihm verbringen ...«
»Schluss jetzt«, zischte sie, als sie sich erhob. »Ich denke, es ist Zeit, dass wir Ihnen ein Zimmer suchen und ...«
Sie hielt inne, weil ein süßes kleines Mädchen, ungefähr zwei Jahre alt, mit ausgebreiteten Armen auf Michael zustürmte. Michael fing die Kleine auf.
Emily ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, während sie mit weit aufgerissenen Augen zusah, wie sich die beiden herzten und küssten. Die Kleine klammerte sich an Michael, als wäre er die Liebe ihres Lebens und als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Wahrscheinlich hat er sein Gedächtnis wieder, dachte Emily und war selbst erstaunt, wie traurig sie der Gedanke machte. Jetzt musste sie wohl oder übel nach Hause fahren oder den Rest des Wochenendes allein verbringen. Du bist selbstsüchtig, Emily!, schalt sie sich, als sie eine junge Frau bemerkte, die auf ihren Tisch zueilte. Sie war offensichtlich die Mutter der Kleinen ... und Michaels Frau?
»Rachel!«, schimpfte die Frau. »Was fällt dir ein? O Sir, es tut mir Leid. Gewöhnlich benimmt sie sich Fremden gegenüber niemals so. Ich weiß
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