Ein Engel mit kleinen Fehlern
"Barbara", rief sie.
"Machen Sie nicht auf, wenn Sie ..."
"Nicht wissen, wer es ist", erwiderte Barbara. "Schon gut, Rae."
Seufzend glitt Rae wieder unter die Decke. Tom kletterte aufs Bett, um ihr das Gesicht abzulecken.
"Okay, okay", sagte sie. "Ich stehe ja schon auf."
Als sie die Schlafzimmertür öffnete, raste der Hund hinaus.
Gähnend versuchte sie, ihr zerzaustes Haar zu glätten. Es war keine gute Nacht gewesen. Sie hätte in ihr Büro oder in eine Bar gehen sollen, anstatt von Gabriel MacLaren zu träumen.
"Hör jetzt endlich auf damit, Boudreau", murmelte sie und verschwand im Bad. Nach dem Duschen zog sie Jeans und ein zu großes Shirt in schreiendem Orange an. Sie hatte es aus Trotz gekauft, als eine Art Rüstung, und wünschte, sie hätte einen Lippenstift, der dazu passte.
Als sie die Küche betrat, saß Gabriel am Tisch und frühstückte mit Sarah, Mike und Joey.
Er hob den Kopf. "Guten Morgen", sagte er.
Rae lag einiges auf der Zunge, aber sie wollte es nicht vor den Kindern aussprechen. Sie schaute zu Barbara hinüber, die gerade Eier in die Pfanne schlug. Die junge Frau warf ihr einen viel sagenden Blick zu.
"Morgen", sagte Rae und setzte sich an den Tisch. Am liebsten hätte sie Gabriel mit einer Gabel gestochen. Am besten dort, wo es besonders schmerzte. Offenbar sah man ihr an, was sie dachte, denn er bedachte sie mit jenem zynischen Lächeln, das sie so genau kannte.
"Gib mir einen Kuss, Rae", bat Sarah.
Rae beugte sich hinüber und küsste das kleine Mädchen auf die Wange. Dann sah sie die Jungs an. "Wollt ihr auch einen?"
Entsetzt rissen die beiden die Augen auf. "Ich küsse keine Mädchen", verkündete Joey.
Gabriel lachte fröhlich. "Jungs, irgendwann werdet ihr darum betteln, ein Mädchen küssen zu dürfen."
"Niemals!" rief Mike.
Die beiden sprangen auf und rannten ins Wohnzimmer, um fernzusehen. Als die Stimmen einer Comicserie in die Küche drangen, glitt Sarah vom Stuhl und eilte zu ihren Brüdern.
Rae warf Gabriel einen wütenden Blick zu. "Sprich mich nicht wieder an, sonst werde ich gewalttätig", flüsterte sie.
"Werde so gewalttätig, wie du willst", erwiderte er. "Denn ich will mit dir reden, lange und gründlich."
"Du..."
"Seien Sie nett, Rae." Barbara stellte ihr einen Teller hin.
Rae starrte auf die beiden Spiegeleier. Ihr war der Appetit vergangen. Sie stand auf.
"Bringen wir es hinter uns", fauchte sie.
Gabriel erhob sich. "Einverstanden."
Rae drehte sich zu Barbara um. "Tut mir leid. Aber ich bekomme heute Morgen keinen Bissen herunter.."
"Ich verstehe das", antwortete Barbara. "Ich hoffe, Sie auch", fügte sie leise hinzu.
Als Rae unwillig den Kopf schüttelte, lächelte Barbara.
MacLaren rief den Kindern etwas zum Abschied zu und ging zur Tür. Rae blieb nichts anderes übrig, als ihre Tasche zu nehmen und ihm zu folgen.
Auf der Fahrt zu ihrem Büro herrschte frostiges Schweigen.
Mit eisigem Gesicht betrat Rae den Fahrstuhl und wartete, bis Gabriel einstieg. Als die Tür sich schloss, drehte sie sich zu ihm um.
"Lieber würde ich mir sämtliche Zähne ziehen lassen, als den Tag mit dir in einem Raum zu verbringen", sagte sie.
Er verzog keine Miene. "Ob es dir passt oder nicht, wir müssen reden. Ganz in Ruhe. Kein Streit, keine Konkurrenz, keine Spielchen. Nur Reden. Du und ich."
"Findest du nicht, dass es dazu schon zu spät ist?" fragte sie.
"Zum Reden ist es nie zu spät", antwortete er.
"Vorausgesetzt, man bedeutet einander noch etwas."
Erstaunt sah sie ihn an. Bevor sie etwas erwidern konnte, ging die Fahrstuhltür auf. Sie ging den Korridor entlang zu ihrem Büro. Mit federnden Schritten holte er sie ein. Sein Blick verriet nichts von dem, was in ihm vorging, doch er wirkte so angespannt, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren.
Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie den Schlüssel ins Schloss schob. Er legte seine Hand auf ihre, um ihr zu helfen.
Dann lächelte er. Es war ein zärtliches, unendlich besit zergreifendes Lächeln, das ihr unter die Haut ging.
Er schob die Tür auf, und es kostete Rae ihre ganze Willenskraft, sich von seinen kristallblauen Augen zu lösen und ihr Büro zu betreten.
Sie erkannte es kaum wieder.
15. KAPITEL
Mit offenem Mund starrte Rae auf das Chaos, das jemand in ihrem Büro angerichtet hatte. Sämtliche Papiere waren aus den Aktenschränken gerissen und auf dem Boden verstreut worden.
Die Schubladen des Schreibtischs hingen herunter, und die Polster der Couch waren aufgeschlitzt
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