Rheinsteigmord - Kriminalroman
Prolog
Oh, là, là …
Da regt sich was!
Die knotige, fleckige Hand tastet sich zum bereitliegenden Fernglas. Der Mann stöhnt leise, als er den schwarzen Feldstecher anhebt und an die Augen führt. Seine Finger schmerzen. Die Gicht. Heute ist es mal wieder besonders schlimm.
Langsam gleitet sein fokussierter Blick über die Häuser, die aus den Feldern und Weiden herausragen wie erstarrte Schiffe aus den Wellen in einem grünen Meer.
Ah, dahinten … da arbeitet jemand. Quelle surprise! Normalerweise sieht man den jungen Mann, der erst vor einem halben Jahr in das Haus eingezogen ist, höchstens mal Rasen mähen. Die Woche über ist er in der Stadt. Buchhalter oder so was, heißt es. Ein Bürohengst. Dem macht der Garten sicher wenig Spaß. Wollen nichts dafür tun, die jungen Leute. Sich einfach reinsetzen. Am liebsten hätten sie Gras, das von Natur aus kurz bleibt. Auch die Frau ist selten draußen zu sehen. Quel dommage! Hübsches Ding. Kommt ganz nach der Mutter.
Er bewegt das Fernglas, stellt es schärfer. Vielleicht zeigt sie sich irgendwo?
Er hat die Mutter noch gekannt. Vor sechs Jahren ist sie gestorben. Und der Alte lebt jetzt in einem Pflegeheim. Immerhin hat er der Tochter das Grundstück hinterlassen, damit sie das Fertighaus draufstellen kann.
Er sucht die Fenster des blendend weißen Gebäudes ab. Die Sonne spiegelt sich in den glänzenden Dachziegeln. Sie sehen aus wie frisch gewaschen.
Die Frau ist nicht da. Wahrscheinlich einkaufen. Noch ein Schwenk – diesmal zur Garageneinfahrt. Dort steht der dunkle Renault. Nein, sie muss zu Hause sein. Sicher ist sie mit der Wäsche beschäftigt.
Was macht der Herr Gemahl?
Er kann ihn zuerst nicht finden, doch dann bemerkt er eine Bewegung an dem grünen Geräteschuppen aus Metall, der ganz in der Ecke des Grundstücks, in der Nähe der Garage steht. Der junge Mann kommt heraus. Er hat etwas in der Hand.
Mon Dieu , das ist ja eine Spitzhacke.
Was will der Buchhalter, der sich sonst nur den Hintern über seinen Zahlen platt sitzt, damit?
Die Hacke ist sichtlich schwer. Der Mann trägt sie zuerst seitlich, dann bleibt er stehen und legt sie sich über die Schulter. Nach ein paar Schritten wird ihm aber auch das zu unbequem, und er fällt wieder ins Tragen zurück. Das kann man nicht lange machen. Dabei hält man sich schief und riskiert einen Hexenschuss. Oder einen Bandscheibenvorfall.
Fast tut ihm der junge Mann leid, wie er da so linkisch mit der Hacke hantiert. Aber die Schadenfreude überwiegt. Ein leises Lachen entringt sich ihm, als er ihm mit dem Fernglas bis zur Mauer folgt.
Und da wird ihm klar, was der Mann vorhat.
Die Mauer stützt den hinteren Teil des Grundstücks ab, das gut zwei Meter höher liegt. Dort oben wuchert es gewaltig. Es ist ein wahrer Urwald aus Büschen, Brombeerranken, allerlei Unkraut und vielleicht sogar irgendwelchen Resten von Sperrmüll, längst überwachsen, rostend und vergessen. Von der Fläche her gesehen macht dieses terrassenähnliche Gelände mehr als ein Drittel des gesamten Grundstücks aus. Früher, als es noch zu einem viel größeren Anwesen gehörte, war der Bereich so eine Art Rumpelkammer – für ausgediente Metallteile, Autoreifen, Baumschnitt und sonstigen Kram. Damals stand dort oben ein kleines Gebäude, das man über eine Treppe an der Seite erreichen konnte. Ein Schuppen oder ein Hühnerstall. Irgendwann hat es reingeregnet. Die Steine waren für was anderes gebraucht worden. Vielleicht sogar für die Mauer, die den nun völlig unbrauchbaren Teil des Grundstücks abstützte.
Er hat den jungen Mann genau im Blick, als der die Hacke hochhebt und mit aller Kraft zuschlägt. Kaum hat er den ersten Streich getan, sieht er sich das Ergebnis an. Man braucht kein Fernglas, um zu erkennen, dass die Spitzhacke nicht viel angerichtet hat.
Um so eine Mauer einzureißen, brauchst du mehr als dieses Kinderspielzeug, mit dem du noch nicht mal umgehen kannst, denkt er. Und du brauchst mehr auf den Armen.
Der junge Mann holt wieder aus und macht dabei den typischen Anfängerfehler, sich vom Schwung der Hacke mitreißen zu lassen, anstatt ihr Gewicht sinnvoll einzusetzen. Er lässt sich davon aber nicht abhalten.
Durchhaltevermögen hat er ja. Das muss man ihm lassen.
Nach und nach findet er sich in seine Arbeit hinein, obwohl das Ganze wie die Aufgabe des berühmten Sisyphos wirkt. Die Mauer ist mindestens zwanzig Meter lang. Für einen einzigen Meter wird er einen halben Tag brauchen. Das sind
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