Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
aber auch Nachteile haben. Dann etwa, wenn sich der Jugendliche die Störenfriede und »bösenJungen« als Vorbild aussucht. Diese mögen ihn zwar akzeptieren, wenn er sich wie sie kleidet, ihre Sprache spricht und ihre Gesten und ihren Verhaltenskodex kennt, aber damit entfernt er sich von angemesseneren Vorbildern. Außerdem wird die Gruppe schließlich erkennen, dass sein Verhalten nicht echt ist, sondern nur dem verzweifelten Wunsch entspringt, akzeptiert zu werden. Der Jugendliche merkt dann vielleicht gar nicht, wie man sich insgeheim über ihn lustig macht und ihn »reinlegt«.
AUS DEM LEBEN
»Ich habe mir eine Identität für mich ausgedacht«
Die Fähigkeit, eine Rolle im Alltagsleben zu spielen, erklärt Donna Williams so:
»Mir erschien es unmöglich, mit ihr in einer normalen Stimmlage zu sprechen. Ich habe einen starken amerikanischen Akzent aufgesetzt, mir eine Geschichte und eine Identität für mich ausgedacht. Wie immer habe ich mir eingeredet, dass ich dieser neue Charakter tatsächlich war, und ich habe das sechs Monate durchgehalten.« 36
Ein weiterer Nachteil ist, dass manche Psychologen und Psychiater in einem solchen Fall zum Schluss kommen könnten, dass eine multiple Persönlichkeit vorliegt, ohne zu erkennen, dass es sich um einen konstruktiven Anpassungsmechanismus als Folge des Asperger-Syndroms handelt.
Gegengeschlechtliche Nachahmung
Einige Kinder mit Asperger-Syndrom mögen die Person nicht, die sie sind und wären lieber jemand anderes, jemand, der sozial fähiger ist und der Freunde hat. Einem Jungen mit Asperger-Syndrom fällt vielleicht auf, wie beliebt seine Schwester bei Gleichaltrigen ist. Er bemerkt auch, dass Mädchen und Frauen, besonders seine Mutter, über soziale Intuition verfügen. Um soziale Fähigkeiten zu erwerben, ahmt er deshalb Mädchen nach. Das kann so weit gehen, dass er sich auch wie ein Mädchen kleidet. Es gibt mehrere Fallberichte und auch ich selbst habe mehrere männliche und weibliche Betroffene mit Asperger-Syndrom erlebt, die eine problematische geschlechtliche Identität hatten. 37
Das kann auch Mädchen mit Asperger-Syndrom betreffen, die einen Selbsthass entwickeln und jemand anders werden wollen. Manchmal möchten solche Mädchen männlich sein, besonders, wenn sie sich nicht mit den Interessen und Plänen anderer Mädchen identifizieren können und ihnen die Aktivitäten der Jungen interessanter erscheinen. Der Wechsel des sozialen Geschlechts wird allerdings nicht automatisch zu sozialer Akzeptanz und zur Akzeptanz seiner selbst führen.
Wenn Erwachsene mit dem Asperger-Syndrom Nachahmung und Schauspielereien benutzen, um eine künstliche soziale Kompetenz zu erwerben, können sie dabei beträchtliche Schwierigkeiten haben, den Leuten klarzumachen, dass sie echte Probleme mit dem sozialen Verständnis und mit Empathie haben; sie sind dann in der Rolle zu gut geworden, als dass man ihnen solche Probleme abnimmt.
Welche Vor- und Nachteile hat die Diagnosestellung?
Ist die Diagnose gestellt, können manche Kompensations- und Anpassungsstrategien vermieden oder reduziert werden. Auch die Sorgen über mögliche andere Stö rungen, etwa dass man verrückt sei, werden zerstreut. Es wird offensichtlich, dass das Kind tatsächlich Schwierigkeiten hat, mit Erfahrungen umzugehen, die anderen leicht und angenehm erscheinen. Wenn ein Erwachsener Probleme mit nonverbalen Aspekten der Kommunikation hat, insbesondere dem Augenkontakt, dann kann es in der Wahrnehmung anderer dazu führen, dass ihm eine Geisteskrankheit oder böse Absichten unterstellt werden. Wenn man solchen Menschen aber einmal die Merkmale des Asperger-Syndroms erklärt, können diese falschen Vorstellungen korrigiert werden.
Diagnose im Kindesalter
Kinder mit dem Asperger-Syndrom besitzen keine körperlichen Merkmale, die anzeigen würden, dass sie anders sind; und ihre intellektuellen Fähigkeiten können andere dazu verleiten, daraus auch auf soziale Fähigkeiten zu schließen. Sobald aber die Diagnose einmal bestätigt und verstanden ist, kann es bei den anderen zu einer Anpassung der Erwartungen, zu Akzeptanz und Unterstützung kommen. Das Kind wird nun verstanden und eher respektiert. Das Kind sollte im Hinblick auf die soziale Kompetenz eher Komplimente als Kritik erfahren. Seine Verwirrung und Erschöpfung, die daraus resultiert, dass es gleich zwei Stoffe lernen muss, den Unterrichtsstoff auf der einen und das soziale Miteinander auf der anderen Seite, sollte anerkannt
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