Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
zuzugeben, im Unrecht zu sein. Stattdessen sucht es Streit. Hans Asperger schrieb dazu: »Es liegt die große Gefahr nahe, dass man an dem verbalen Negativismus dieser Kinder ins Debattieren kommt, ihnen beweisen will, dass sie unrecht haben, sie zur Einsicht bringen will. Besonders Eltern versuchen dies meist – und reiben sich in endlosen Debatten auf, die niemals zu einem Ziel führen.« 33
Das Kind kann sehr gut behalten, was jemand gesagt oder getan hat, um seine Sichtweise zu belegen und ist zu keinen Eingeständnissen oder Kompromissen bereit. Eltern mag der Gedanke trösten, dass diese Eigenschaft zu einer erfolgreichen Karriere als Rechtsanwalt führen kann. Das Kind hat jedenfalls jede Menge Erfahrung darin, seinen Standpunkt zu vertreten.
Leider können bei der überheblichen Haltung nur schwer Freundschaften entstehen. Weigert sich das Kind, an Verhaltensprogrammen, die sein soziales Verständnis fördern würden, teilzunehmen, vergrößert das den Graben zwischen ihm und den anderen Kindern. Es ist leicht zu verstehen, warum das Kind solche Kompensations- und Anpassungsstrategien entwickelt. Leider können die langfristigen Auswirkungen einen schwerwiegenden Einfluss auf Freundschaften und auf die Aussichten auf Beziehungen und Beschäftigungen als Erwachsener haben.
Nachahmen
Ein intelligenter und konstruktiver Kompensationsmechanismus, den manche Kinder anwenden, ist sozial erfolgreiche Kinder zu beobachten und zu imitieren. Solche Kinder halten sich zunächst am Rand, beobachten das Spiel und stellen fest, wer wann was tut. Danach spielen sie in ihrem eigenen Spiel für sich die Handlungen nach, die sie beobachtet haben, wobei sie zu Hause Puppen oder imaginierte Freunde benutzen. Sie üben immer wieder das Drehbuch und ihre Rolle darin, um sie fließend zu beherrschen und Selbstvertrauen zu gewinnen, bevor sie versuchen, in reale soziale Situationen integriert zu werden. Manche Kinder können erstaunlichscharfe Beobachter sein und Gesten, Stimmlagen und persönliche Eigenheiten sehr genau nachahmen. Sie entwickeln die Fähigkeit, wie geborene Schauspieler zu wirken.
AUS DEM LEBEN
»Ich konnte selbst winzigste Gesten nachahmen«
In ihrer Autobiografie beschreibt zum Beispiel Liane Holliday Willey ihre Arbeitsweise so:
»Ich konnte an der Welt als ein Beobachter teilnehmen. Ich war ein guter Beobachter. Ich war von den Nuancen bei den Handlungen der Leute fasziniert. Tatsächlich war es so, dass ich es erstrebenswert fand, die andere Person zu werden. Nicht, dass ich bewusst losgezogen bin, um das zu tun, vielmehr war es halt das, was ich einfach automatisch tat. Als bliebe mir in dieser Sache gar keine andere Wahl. Meine Mutter erzählt mir, dass ich gut darin war, das Wesen und den Charakter von Menschen zu erfassen.« 34
»Es war geradezu unheimlich, wie sehr es mir gelang, einen Akzent, persönlichen Tonfall, einen Gesichtsausdruck, eine Handbewegung, die Gangart und winzigste Gesten nachzuahmen. Es war, als würde ich tatsächlich zu der Person werden, die ich nachahmte.« 35
Eingeübtes Schauspiel statt spontaner Interaktion
Ein vollendeter Schauspieler zu werden, kann auch noch andere Vorteile mit sich bringen. Das Kind kann bekannt dafür werden, dass es die Stimme und den Charakter eines Lehrers oder eines Darstellers aus dem Fernsehen nachmachen kann. Der Heranwachsende mit Asperger-Syndrom kann das Wissen, das er in einer Theatergruppe erworben hat, auf Alltagssituationen anwenden, um zu bestimmen, wer in einer solchen Situation erfolgreich ist und um den Charakter dieser Person für sich zu übernehmen. Das Kind oder der Erwachsene kann sich die Wörter und die Körperhaltung von jemandem in einer ähnlichen Situation im realen Leben oder im Fernsehen einprägen. Er oder sie spielt die Szene dann nach und verwendet dabei den »ausgeborgten« Dialog und die entsprechende Körpersprache.
Es gibt eine Fassade des sozialen Erfolges, doch wenn man genauer hinschaut, ist die scheinbare soziale Kompetenz nicht spontan oder echt, sondern künstlich und gestellt. Dennoch kann Übung und Erfolg die Schauspielfähigkeiten einer solchen Person verbessern, sodass das Schauspielen zu einer möglichen beruflichen Option wird.
Ein früherer Schauspieler mit Asperger-Syndrom erklärte mir: »Als Schauspieler erscheinen mir die Regiebücher viel realer als das Alltagsleben. Das Rollenspiel entspricht ganz meiner Natur.«
Wenn die falschen Vorbilder nachgeahmt werden
Die Nachahmungsstrategie kann
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