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Ein geschenkter Tag

Ein geschenkter Tag

Titel: Ein geschenkter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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sollte, um ihr beizubringen, wie man lebt.
    Damit sie endlich ihre Schutzhülle fallen lässt, sich gehenlässt, den Kittel ablegt und die übelriechenden Ausdünstungen der anderen vergisst.
    Es stimmt mich traurig, dass sie so ist, eingeschnürt in ihre Vorurteile und unfähig zu Zärtlichkeit. Und dann fällt mir wieder ein, dass sie von jenen lebenssprühenden Geschöpfen, Jacques und Francine Molinoux, am Ende einer Sackgasse in einer Vorortsiedlung von Le Mans erzogen wurde, und ich glaube, wenn man alles bedenkt, ist sie gar nicht so übel geraten.
     
    Die Waffenruhe war nicht von langer Dauer, als nächstes kriegte Simon seinen Teil ab:
    »Fahr nicht so schnell. Verriegel die Türen, wir kommen gleich zu einer Mautstelle. Was ist das für ein Sender? Ich habe nicht gemeint, dass du jetzt zwanzig fahren sollst. Warum hast du die Klimaanlage runtergedreht? Achtung, Motorradfahrer. Bist du sicher, dass du die richtige Karte mitgenommen hast? Könnte Monsieur vielleicht mal die Schilder lesen? Wie ärgerlich, das Benzin war hier bestimmt billiger ... Vorsicht in den Kurven, du siehst doch, dass ich mir die Nägel lackiere! Sag mal, machst du das extra?«
     
    Ich sehe den Nacken meines Bruders in der Lücke zwischen Kopfstütze und Sitz. Sein schöner gerader Nacken und seine kurzgeschorenen Haare.
    Ich frage mich, wie er das aushält und ob er nicht manchmal davon träumt, sie an einen Baum zu binden und einfach wegzufahren.
    Warum redet sie mit ihm in diesem Ton? Weiß sie überhaupt, mit wem sie da spricht? Weiß sie, dass der Mann an ihrer Seite ein Bastelgenie war? Ein As im Umgang mit Modellbaukästen? Ein absoluter Lego-Experte?
    Ein geduldiger kleiner Junge, der Monate damit zubringen konnte, einen verrückten Planeten zu konstruieren, mit getrockneten Flechten für den Boden und grässlichen Insekten, die er aus Brotkrumen und Spinnweben fabriziert hatte?
    Ein eigensinniger kleiner Junge, der an allen Wettkämpfen teilnahm und sie fast alle gewann: Nesquik, Ovomaltine, Babybel, Caran d'Ache, Kellogg's und Micky-Maus-Club ?
    In einem Jahr war seine Sandburg so schön, dass ihn die Jurymitglieder mit dem Vorwurf, er habe sich helfen lassen, disqualifiziert haben. Er hat den ganzen Nachmittag geweint, und unser Großvater musste mit ihm in eine Crêperie gehen, um ihn zu trösten. Dort hat er hintereinander weg drei Becher Cidre getrunken.
    Sein erster Rausch.
     
    Ist ihr bewusst, dass ihr Göttergatte monatelang Tag und Nacht ein Superman-Cape aus rotem Seidenstoff getragen hat, das er sorgfältig zusammenlegte und in den Ranzen steckte, sobald er durch das Schultor trat? Der einzige Junge, der den Kopierer auf dem Bürgermeisteramt reparieren konnte. Und auch der einzige, der jemals Mylène Carois' Höschen gesehen hat, das war die Tochter der Fleischerei Carois und Söhne. (Er traute sich nicht, ihr zu sagen, dass es ihn nicht sonderlich interessierte.)
     
    Simon Lariot, der zurückhaltende Simon Lariot, der stets unbeirrt seinen Weg gegangen ist, ohne sich mit anderen anzulegen.
     
    Der sich nie auf dem Boden gewälzt, nie etwas gefordert, sich nie beschwert hat. Der die Vorbereitungskurse und die Zulassungsprüfung für die Bergakademie ohne Probleme und ohne Betablocker bestanden hat. Der das nicht feiern wollte und bis zu den Ohren errötete, als die Direktorin des Lycée Stendhal ihn auf der Straße umarmt hat, um ihm zu gratulieren.
    Derselbe große Junge, der auf die Sekunde genau zwanzig Minuten lang lachen kann, wenn er an einem Joint zieht, und der sämtliche Flugbahnen sämtlicher Raumschiffe aus Star Wars kennt.
    Ich sage nicht, dass er ein Heiliger ist, er ist besser.
     
    Warum? Warum lässt er sich von ihr auf der Nase herumtanzen? Großes Geheimnis. Tausendmal schon wollte ich ihn schütteln, ihm die Augen öffnen und ihn auffordern, mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Tausendmal.
    Lola hat es einmal probiert. Er hat sie abblitzen lassen und geantwortet, es sei sein Leben.
    Das stimmt. Es ist sein Leben. Aber uns macht es traurig.
    Was bescheuert ist. Schließlich haben wir vor der eigenen Tür genug zu kehren ...
     
    Mit Vincent redet er am meisten. Schuld ist das Internet. Sie schreiben sich ständig, schicken sich alberne Witze und Webseiten, auf denen sie Vinylplat-ten, gebrauchte Gitarren und Freunde des Modellbaus finden. So hat Simon einen tollen Freund in Massachusetts aufgetrieben, die beiden tauschen Fotos ihrer ferngesteuerten Boote aus. Der Typ heißt Cecil (Sessil) W.

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