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Ein geschenkter Tag

Ein geschenkter Tag

Titel: Ein geschenkter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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steigern, das Ganze mit eigenen Augen sehen. Und siehe da, o Schreck, meine Schwester drosch auf eine Nackenrolle ein, während Vincent im Rhythmus dazu brüllte und Schnieff und Schnuff  las. Die Enttäuschung war riiiiesig. An diesem Tag ist Lola von ihrem Sockel gestürzt.
    Was nicht schlecht war. Von nun an waren wir auf Augenhöhe.
     
    Heute ist sie meine beste Freundin. So wie bei Montaigne und La Boétie, Sie wissen schon ... Ganz einfach, weil sie es war, weil ich es war. Und dass diese

    junge Frau von zweiunddreißig Jahren meine ältere Schwester ist, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Außer vielleicht in der Beziehung, dass wir keine Zeit damit verloren haben, uns zu finden.
     
    Ihr entsprachen Die Essais, die tollen Theorien, dass man für seine Unbeugsamkeit bestraft wird und dass Philosophieren heißt, Sterben zu lernen. Mir entsprach Von der freiwilligen Knechtschaft, mit all den unendlichen Missständen und den Tyrannen, die ihre Größe nur dem Umstand verdanken, dass wir vor ihnen auf den Knien liegen. Ihr gehörte die erhabene Weisheit, mir die Urteilsverkündung. Uns beiden der Eindruck, von allem die Hälfte zu sein, dass die eine ohne die andere nur ein Halbes ist.
     
    Dabei sind wir ziemlich verschieden. Sie hat Angst vor ihrem Schatten, ich pfeife auf ihn. Sie schreibt Sonette ab, ich lade Samples herunter. Sie bewundert Maler, ich bevorzuge Fotografen. Sie sagt nie, was sie auf dem Herzen hat, ich sage, was ich denke. Sie mag keine Auseinandersetzungen, mir gefällt es, wenn die Dinge geklärt sind. Sie ist gern ein wenig »angesäuselt«, ich trinke lieber richtig. Sie geht nicht gern aus, ich will nicht gern nach Haus. Sie kann sich nicht amüsieren, ich komme nicht ins Bett. Sie mag nicht spielen, ich hasse es zu verlieren. Sie hat unendlich weite Arme, meine Menschenfreundlichkeit ist angeknackst. Sie regt sich niemals auf, ich flippe oft aus.
    Sie behauptet, die Welt gehöre den Frühaufstehern, ich beknie sie, nicht so laut zu reden. Sie ist romantisch, ich bin pragmatisch. Sie ist verheiratet, ich bin flatterhaft. Sie schläft nicht mit einem Kerl, ohne verliebt zu sein, ich nicht ohne Kondom. Sie -Sie braucht mich, und ich brauche sie.
     
    Sie verurteilt mich nicht. Sie nimmt mich, wie ich bin. Mit grauem Teint und schwarzen Gedanken. Oder mit rosigem Teint und Ideen wie Goldknöpfen. Lola weiß, wie es ist, große Lust auf eine Cabanjacke oder hochhackige Schuhe zu haben. Sie versteht die unbändige Freude, wenn eine Kreditkarte heißläuft, und die Vorwürfe danach, wenn sie wieder abgekühlt ist. Lola verwöhnt mich. Sie hält den Vorhang, wenn ich in der Umkleidekabine stehe, behauptet immer, dass ich gut aussehe und nein, die Hose macht auf keinen Fall einen dicken Po. Sie fragt mich jedesmal, wie es mit der Liebe geht, und zieht ein Gesicht, wenn ich von meinen Liebhabern erzähle.
    Haben wir uns lange nicht gesehen, gehen wir zusammen in die Kneipe, zu Bofinger oder Baizar, um uns ein paar Kerle anzuschauen. Ich konzentriere

    mich auf die Jungs an den Nebentischen, sie konzentriert sich auf die Kellner. Sie ist fasziniert von diesen großen Tölpeln mit taillierter Weste. Sie folgt ihnen mit dem Blick, dichtet ihnen ein Schicksal à la Claude Sautet an und seziert ihre gewählten Umgangsformen. Witzig ist es in dem Moment, wenn einer am Ende seiner Schicht in die falsche Richtung läuft. Dann sieht er nach gar nichts mehr aus. Eine Jeans oder eine Trainingshose hat die weiße Schürze ersetzt, und der Abschied von den Kollegen fällt eher wenig elegant aus: »Tschüss, Bernard!«
    »Tschüss, Mimi. Sieht man sich morgen?«
    »Das glaub mal nur, mein Lieber.«
    Lola schlägt die Augen nieder und wischt mit den Fingern ihren Teller ab. Das war's dann wohl mit Vincent, François, Paul und den anderen ...
     
    Wir hatten uns ein wenig aus den Augen verloren. Ihr Internat, ihr Studium, ihre Hochzeitsliste, ihre Urlaube bei den Schwiegereltern, die Essenseinladungen ...
    Wir umarmten uns zwar, aber es fehlte die Herzlichkeit. Sie hatte das Lager gewechselt. Oder eher die Mannschaft. Sie spielte zwar nicht gegen uns, aber sie spielte in einer Liga, die uns ein wenig langweilte.

    Eine Art Kricket für Doofe mit unverständlichen Regeln, wo man hinter einem Teil herrennt, das man nie sieht und das außerdem weh tut ... Ein ledernes Teil mit einem Kern aus Kork. (He, Lolo! Ohne es zu wollen, habe ich gerade dein Leben auf den Punkt gebracht!)
    Während wir, »die Kleinen«,

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