Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die Familie Fanariotow und durch den alten Fürsten Sokolskij (Werssilows früheren Freund). Allerdings lernte ich, als ich ihn diesen vollen Monat lang beobachtete, einen hochmütigen Menschen kennen, den nicht die Gesellschaft aus ihrem Kreis ausgeschlossen, sondern der selbst die Gesellschaft aus seinem Lebenskreis verbannt hatte – so souverän war seine Haltung. Aber ob er auch das Recht darauf hatte – das war die Frage, die mich bewegte! Ich wollte die Wahrheit möglichst bald erfahren, denn ich war gekommen, um diesen Menschen zu richten. Von meiner Macht durfte er vorläufig nichts ahnen, aber ich mußte mich entscheiden und ihn entweder anerkennen oder fallenlassen, ganz und gar. Letzteres aber wäre über meine Kräfte gegangen, und ich quälte mich. Ich will es endlich gestehen: Dieser Mensch war mir teuer!
Einstweilen wohnte ich mit ihnen unter einem Dach, arbeitete und bemühte mich, nicht grob zu werden. Ich brauchte mich sogar nicht einmal zu bemühen. Nach einem Monat solchen Zusammenlebens konnte ich mich mit jedem weiteren Tag aufs neue davon überzeugen, daß ich mich wegen einer endgültigen Erklärung gar nicht an ihn zu wenden brauchte. Der stolze Mann ragte vor mir wie ein Rätsel auf, das mich zutiefst verletzte. Er war sogar nett zu mir und scherzte, aber ein Streit wäre mir lieber gewesen als solche Scherze. Alle meine Gespräche mit ihm hatten stets etwas Zweideutiges, das heißt schlicht und einfach Spöttisches von seiner Seite. Von meiner Ankunft aus Moskau an hat er mich nicht ernst genommen. Ich aber konnte es nicht begreifen, warum er das getan hat. Natürlich, er hat damit erreicht, daß er für mich undurchdringlich blieb; ich aber hatte mich nie so weit erniedrigt zu bitten, mich ernst zu nehmen. Außerdem verfügte er über erstaunliche und unwiderstehliche Kniffe, gegen die ich machtlos war. Kurz, er behandelte mich völlig wie einen grünen Jungen, was ich kaum ertragen konnte, wiewohl ich im voraus wußte, daß es so kommen würde. Die Folge war, daß auch ich nicht mehr ernsthaft redete und mich aufs Warten verlegte; ich redete fast überhaupt nicht mehr. Ich wartete auf eine Person, mit deren Eintreffen in Petersburg ich der Wahrheit auf den Grund kommen konnte; das war meine letzte Hoffnung. Jedenfalls traf ich Anstalten, unsere Beziehung endgültig abzubrechen. Meine Mutter tat mir leid, aber … »entweder er oder ich« – das war es, was ich ihr und meiner Schwester vorschlagen wollte. Auch der Termin dafür stand bereits fest; einstweilen versah ich täglich meinen Dienst.
Zweites Kapitel
I
An diesem Neunzehnten sollte ich auch mein erstes Gehalt für den ersten Monat meiner Petersburger Anstellung in einem »privaten Hause« erhalten. Wegen dieses Postens hatten sie mich nicht einmal gefragt, sondern mich einfach hingeschickt, ich glaube, gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft. Das war sehr rücksichtslos, und ich wäre beinahe verpflichtet gewesen, dagegen zu protestieren. Dieser Posten war, wie es sich zeigte, im Hause des alten Fürsten Sokolskij. Aber ein Protest gleich am Anfang wäre einem Bruch mit ihnen gleichgekommen, was mich keineswegs erschreckt, jedoch meinen wesentlichsten Zielen geschadet hätte, und deshalb trat ich diese Stelle zunächst schweigend an, durch das Schweigen meine Würde behauptend. Ich möchte gleich am Anfang erklären, daß dieser Fürst Sokolskij, enorm reich und Geheimrat, mit den Fürsten Sokolskij in Moskau (die bereits seit mehreren Generationen völlig verarmt waren), mit denen Werssilow prozessierte, nicht im entferntesten verwandt war. Sie waren lediglich Namensvettern. Dennoch brachte der alte Fürst ihnen sehr lebhaftes Interesse entgegen und sympathisierte ganz besonders mit einem jener Fürsten, sozusagen dem Haupt ihrer Familie – einem jungen Offizier. Werssilow hatte bis zuletzt einen starken Einfluß auf die Angelegenheiten dieses alten Herrn und galt als sein Freund, ein seltsamer Freund, weil dieser alte Fürst vor ihm, wie ich bemerken konnte, furchtbaren Respekt hatte, und zwar nicht erst, seit ich meine Stellung angetreten hatte, sondern, wie mir schien, schon immer, während der ganzen Zeit ihrer Freundschaft. Übrigens hatten sie sich schon lange nicht mehr gesehen. Die ehrlose Handlung, deren Werssilow beschuldigt wurde, bezog sich gerade auf die Moskauer Fürstenfamilie; aber da tauchte Tatjana Pawlowna auf, und eben durch ihre Vermittlung wurde ich bei dem alten Herrn angestellt, der einen
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