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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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vorzustellen als stets und überall in der ersten Rolle. Werssilow pflegte niemals die Wohnung mit meiner Mutter zu teilen, sondern stets eine separate zu mieten: Natürlich tat er das nach den üblichen, so niederträchtigen »Anstandsregeln«. Aber nun wohnten sie alle zusammen, in einem Hinterhaus, einem Holzgebäude, in einer Nebengasse des Semjonowskij-Polk. Alles Hab und Gut war bereits versetzt, so daß ich meiner Mutter, heimlich vor Werssilow, sogar meine verheimlichten sechzig Rubel zugesteckt habe. Sie waren tatsächlich verheimlicht, von meinem Taschengeld, von den mir monatlich zugeschickten fünf Rubeln, im Laufe von zwei Jahren zusammengespart; mit dem Sparen begann ich seit dem ersten Tag meiner »Idee«, deshalb durfte Werssilow von diesem Geld nichts wissen. Der bloße Gedanke daran ließ mich zittern.
    Diese Hilfe war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Meine Mutter arbeitete, auch meine Schwester übernahm Näharbeiten; Werssilow lebte müßig dahin, ließ seinen Launen freien Lauf und behielt weiterhin seine vielen, ziemlich kostspieligen Gewohnheiten bei. Er nörgelte schrecklich, besonders bei Tisch, und sein ganzes Gehabe war absolut despotisch. Aber Mutter, Schwester, Tatjana Pawlowna und die gesamte Familie des seligen Andronikow (eines vor etwa drei Monaten verstorbenen höheren Beamten, der nebenher Werssilows Vermögen verwaltet hatte), die aus zahlreichen Frauen bestand, beteten ihn an wie einen Götzen. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Es sei bemerkt, daß er vor neun Jahren unvergleichlich eleganter gewesen war. Ich sagte bereits, daß er in meinen Träumen in einer Aureole erschien, und nun konnte ich nicht begreifen, wie es nur möglich war, nach nur neun Jahren so alt und so verbraucht auszusehen: Es wurde mir sofort schwer ums Herz, er tat mir leid, und ich schämte mich für ihn. Sein Anblick gehörte zu den schwersten meiner Eindrücke seit meiner Ankunft. Übrigens war er noch keineswegs ein alter Mann, er war erst fünfundvierzig; bei genauerem Betrachten entdeckte ich in seiner Schönheit sogar etwas Fesselnderes, als in meinen Erinnerungen lebte. Weniger von dem früheren Glanz, weniger Äußerlichkeit, sogar weniger Eleganz, aber das Leben schien in dieses Gesicht etwas weit Interessanteres eingeprägt zu haben als früher.
    Indessen war die bittere Armut nur ein zehnter oder zwanzigster Teil seines Mißgeschicks, und ich wußte das nur allzu gut. Außer der bitteren Armut war es noch etwas ungleich Ernsteres – ganz abgesehen davon, daß immer noch die Hoffnung bestand, den Erbschaftsprozeß, den Werssilow vor einem Jahr gegen die Fürsten Sokolskij angestrengt hatte, zu gewinnen und in kürzester Zeit in den Besitz eines Gutes im Wert von siebzigtausend und vielleicht noch einigen tausend Rubeln mehr zu gelangen. Ich habe oben erwähnt, daß dieser Werssilow in seinem Leben bereits drei Erbschaften durchgebracht hatte – nun sollte ihm die nächste Erbschaft wieder einmal Rettung bringen! Der Prozeß sollte in Kürze vor Gericht entschieden werden. Daraufhin wurde ich hierherbestellt. Allerdings ließ die Hoffnung sich nicht in blanker Münze auszahlen, niemand wollte sie beleihen, und so lange mußte man durchhalten.
    Aber Werssilow suchte auch niemanden auf, wiewohl er manchmal tagelang unterwegs war. Es war schon über ein Jahr her, daß er aus der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Diese Geschichte blieb für mich, ungeachtet aller meiner Bemühungen, in ihrem Kern unaufgeklärt, ungeachtet dessen, daß ich seit einem ganzen Monat in Petersburg gewohnt hatte. Ob Werssilow schuldig oder unschuldig war – das war für mich wichtig, das hatte mich dazu bewogen, nach Petersburg zu kommen! Alle hatten sich von ihm abgewandt, alle, unter anderem auch sämtliche Personen von Rang und Namen, mit denen beste Beziehungen zu unterhalten er sein ganzes Leben meisterlich verstanden hatte; dem Gerücht zufolge nach einer außerordentlich gemeinen und (in den »Augen der Welt« das Schlimmste) skandalösen Handlung, die er angeblich vor einem Jahr in Deutschland begangen habe, und sogar nach einer Ohrfeige, die er zur selben Zeit unter irgendwie auffälligen Umständen von einem der Fürsten Sokolskij erhalten und nicht mit einer Forderung beantwortet habe. Sogar seine Kinder (die legitimen), Sohn und Tochter, hatten sich von ihm abgewandt und wohnten nicht mit ihm zusammen. Freilich, sein Sohn und seine Tochter verkehrten in den höchsten Kreisen, durch

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