Ein Hauch von Seide - Roman
Anstalten aufzustehen. Sie hatte viel mehr gesagt, als sie hatte sagen wollen – zu viel –, und jetzt war sie müde und erschöpft, doch irgendwie immer noch nicht erlöst von all den alten Kränkungen und dem Schmerz, der damit einherging. Sie hatte ihre Tante mit der vertrauensvollen Liebe eines Kindes geliebt, und der Schmerz, den der Verrat ihrer Tante ihr zugefügt hatte, würde immer ein Teil von ihr sein.
»Rose, bitte, hör mir zu.« Auch Amber war jetzt aufgestanden. »Ja, ich habe dich in Denham gelassen, aber du warst nie allein und ungeschützt, so wie ich auch nie aufgehört habe, an dich zu denken. Verstehst du, Rose, ich habe dich dem einzigen Menschen anvertraut, von dem ich wusste, dass ich mich darauf verlassen konnte, dass er sich um dich kümmert und für mich dein Schutzengel ist.«
Rose runzelte die Stirn. Ihre Tante sprach mit so viel Gefühl, dass sie gezwungen war, ihr zuzuhören.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe dich Jay anvertraut, Rose. Er hat dich jeden Tag besucht und hat mir geschrieben, wie es dir geht. Er hat für mich Fotos von dir gemacht, er war immer für dich da, wenn ich nicht konnte. Er hat meine Liebe zu dir getragen und dafür gesorgt, dass du in Sicherheit warst.«
Rose biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen die Tränen. Ambers Worte warfen ein ganz anderes Licht auf alles, zeigten ihr eine hingebungsvolle Fürsorge, von der sie nichts geahnt hatte und die, wie sie wusste, nur aus Liebe erwachsen sein konnte.
»In dem Augenblick, da ich das erste Mal einen Blick auf dich warf, habe ich eine starke Bindung zu dir gespürt. Für mich ist diese Bindung noch da.«
»Ich war so verletzt durch das, was Cassandra mir erzählt hat. Ich fühlte mich …«
»Und das war genau das, was Cassandra beabsichtigt hat.«
Sie sahen einander mit einem unsicheren Lächeln an.
Amber tat den ersten Schritt, sie streckte die Hand aus und strich Rose über Haar und Wange, und dann umarmten sie einander, lachend und weinend. Es gab kein Zurück in die Vergangenheit und zu dem, was dort verloren war, das war unmöglich, doch vor ihnen lagen die Zukunft und die Chance, ihre Beziehung neu zu gestalten.
Epilog
Mai 1977
»Auf Emerald. Herzlichen Glückwunsch.«
Nach Drogos Geburtstagstrinkspruch hoben alle ihre Champagnerflöten, während Emerald wehmütig auf ihr Limonadenglas blickte. Sie war inzwischen im fünften Monat schwanger, die Wochen der Morgenübelkeit hatte sie hinter sich, doch bei dem Gedanken an Alkohol wurde ihr immer noch flau.
Drogo und Amber hatten eine Familienzusammenkunft in Denham organisiert, um Emeralds Geburtstag zu feiern, und die ganze Familie war da – womit Emerald wahrlich nicht gerechnet hatte.
»Was für ein wunderbarer Vorschlag von Drogo, John könnte in Fitton jedes Jahr ein Open-Air-Rockfestival abhalten, Emerald«, sagte Janey. »John ist ganz aus dem Häuschen. Oh, da ist Ella. Ich muss kurz mit ihr reden, um ihr zu gratulieren. Wie wunderbar, dass ihr dieses Jahr beide ein Kind bekommt.«
Als Janey zu ihrer Schwester eilte, ergriff Rose die Gelegenheit, Emerald ganz für sich zu haben.
»Ich würde dich gern noch etwas fragen«, meinte sie.
»Mmh?«
»Warum hast du gesagt, Mama hätte darum gebeten, dass ich bei ihr im Krankenhaus bleibe, als Jay den Herzinfarkt hatte?«
Die alte Nähe zwischen Amber und Rose war so weit wiederhergestellt, dass Rose Amber jetzt wieder »Mama« nannte.
»Oh, um Himmels willen, Rose, das ist Monate her.«
»Das reicht mir nicht. Du weißt genauso gut wie ich, dass sie nicht nach mir gefragt hat und dass wir es dir zu verdanken haben, dass wir uns endlich ausgesprochen haben.«
Emerald sah ihre Cousine an. »Na gut. Erinnerst du dich an den Abend, als du mich in die Notaufnahme gebracht hast, nachdem Max mich verprügelt hatte?«
»Ja.«
»Du hast mir deine Jacke dagelassen, und sie roch nach dir, und sie gab mir das Gefühl … gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Du hast mir an diesem Abend das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein, Rose, obwohl ich dich als Kind und Jugendliche schrecklich behandelt habe. Ich habe mich an diese Jacke geklammert wie ein Baby, aber das weißt du, nicht wahr?«
Die Frage kam so unerwartet, dass Rose große Augen machte.
»Ich habe dich gesehen«, erklärte Emerald ihr. »In der Nähe hing ein Spiegel, und als ich da reinschaute, habe ich gesehen, dass du stehen bliebst und dann einen Schritt zurücktratest, weil du wusstest, dass ich nicht wollte,
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