Ein Jahr in London
an und ich zucke zusammen. Ich muss unbedingt das Missverständnis aufklären und ihm beibringen, dass der Tottenham Guardian keineswegs mit dem echten Guardian, der großen britischen Tageszeitung, die jeden Morgen von Tausenden von Menschen zum Frühstück gelesen wird, gleichgesetzt werden kann. Doch da hat er mir schon seine Visitenkarte in die Hand gedrückt und ruft mir hinterher:
„Wenn Sie mal nach New York geschickt werden, melden Sie sich bei mir, o. k.? Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen!”
Ich versichere ihm, dass ich das auf meiner nächsten Dienstreise in die USA ganz bestimmt tun werde, und entfliehe so schnell wie möglich, bevor der Irrtum auffallen könnte.
Als ich anschließend Dennis am Telefon von dem Zitat und den Fotos erzähle, ist er begeistert und gibt mir den Rest des Nachmittages frei. Und das heißt, ich habe ein langes Wochenende vor mir, denn heute ist Freitag. Die Temperaturen steigen für mehrere Tage auf fast 30 Grad an und mit den in vielen Vorgärten Londons wachsenden Yucca-Palmen wirkt die Stadt plötzlich richtig tropisch. Was in anderen Ländern einfach Sommer genannt wird, ist in England eine Heatwave dritten Grades und die Regierung gibt den Bürgern strenge Regeln, um in dieser ungewohnten Hitze nicht zu Schaden zu kommen: die Sonne meiden, keinen Sport treiben, Wasser trinken.
Von meinen Nachbarn in der Holloway Road werden diese Tipps natürlich etwas anders interpretiert als vom Prime Minister und Co erhofft. Der einzige Ratschlag, dem sie folgen, ist der des Sportvermeidens – erst mal im Biergarten angekommen, besteht die einzige Bewegung im regelmäßigen Gang zur Bar, und ansonsten kosten sie jede Sekunde der Wärme in Bikinis oder Shorts gekleidet aus.
Am Samstagmorgen sind es schon um zehn Uhr 22 Grad, und selbst die Richter im Old Baileys dürfen ausnahmsweise ihre Mozart-Perücken vor Gericht abnehmen. Und wir fahren ans Meer.
Jake und ich machen uns auf nach Brighton für einen kurzen Wochenend-Trip. Denn auch die aufregendste Stadt der Welt muss man ab und zu verlassen. Wir treffen uns gegen Mittag in Soho, dem Nabel der englischen Unterhaltungsszene, und setzen uns in das French House, ein uralter, chaotischer Pub in der Dean Street.
Nun tun die Engländer zwar so, als mochten sie die Franzosen nicht, in Wirklichkeit aber bewundern sie sie über alles. Franzosen verkörpern all die Qualitäten, die die Briten in den Augen ihrer kontinentalen Nachbarn nicht besitzen: Eleganz, guten Geschmack und gutes Essen. Und damit sich diese Qualitäten irgendwie auf sie abfärben, lieben sie Pubs wie diesen ganz besonders: Während des Krieges tranken hier General de Gaulle und der Rest der französischen Exilregierung, der Maler Francis Bacon war ein regelmäßiger Gast, genauso wie der Dichter Dylan Thomas, der einmal so betrunken war, dass er das gesamte Manuskript für sein berühmtes Hörspiel „Unter dem Milchwald“ unter seinem Stuhl vergaß, wo es zum Glück am nächsten Morgen von einem Kellner gefunden wurde.
Und um es den Engländern zu zeigen, werden im French House keine Pints, sondern nur Half Pints ausgeschenkt, was Jake sehr ärgert.
„Immer müssen die Franzosen sich wichtigmachen. Nur um uns zu ärgern fahren sie auf der rechten Straßenseite, messen Strecken in Kilometern und dann das hier! Bier in Half Pints ausschenken! Unbelievable! “
„Dann kaufst du eben zwei Half Pints, das macht auch keinen großen Unterschied.“
„Es geht ums Prinzip. Getränke in Half Pints sind anmaßend und so middle-class !“ Letzteres spuckt er aus, als hätte er das schlimmste Schimpfwort aller Zeiten benutzt.
Middle-class ist für viele Briten ein abwertender Begriff, denn es steht für alles, was mittelmäßig, langweilig und spießig ist. Selbst der Bankmanager mit seinem 40.000-Pfund-Jahreseinkommen sieht sich noch der Working Class zugehörig, schließlich war sein Großvater noch ein ehrlicher Handwerker.
„Wayne Rooney, ja, das ist noch ein richtiger Mann! Nicht so ein Waschlappen wie der Beckham, der im Rock herumläuft und sich die Fingernägel lackiert! Rooney würde bestimmt keine Half Pints trinken“, mischt sich jetzt der Mann neben uns an der Bar ins Gespräch ein, während er gerade eben ein solches in der Hand hält.
Aus Protest bestellt Jake nur ein Mineralwasser und dann machen wir uns auf nach Victoria, von wo aus unser Zug nach London-on-Sea fährt – denn Brighton ist dank der kurzen Entfernung zur Hauptstadt schon fast
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