Ein Jahr in London
August
Die Frau mit den langen, roten Locken an der Hotelrezeption spricht weder Englisch noch Deutsch. Sie spricht überhaupt nicht. Als ich ihr meinen Namen nenne, mustert sie mich kritisch, schaut in ein Buch und schüttelt dann den Kopf. Ich suche nervös in meiner Tasche nach der Hotelreservierung und halte sie ihr schließlich hin. Genauso wortkarg wie vorher schaut sie das Papier an, wirft dann ohne Erklärung einen Zimmerschlüssel auf den Tresen und zeigt zur Treppe hinter ihr. „Welcome to London“, murmelt sie mit schroffer Stimme.
Hier bin ich also! Vom Fenster meines winzigen Zimmers aus kann ich einen Teil der Charing Cross Road mit ihren vielen Secondhand-Buchläden sehen und ein bisschen weiter entfernt das imposante, weißgetünchte Gebäude der National Gallery . Dazwischen hupen schwarze Taxis und rote Doppeldeckerbusse um die Wette, und Zeitungsverkäufer preisen lauthals die neuste Ausgabe des Evening Standard an. „Neuer U-Bahn-Streik angekündigt! Heute nur zwanzig Pence!“
Seit ich vierzehn Jahre alt war, träumte ich davon, eines Tages in der Haupstadt Cool Britannias leben zu dürfen, und jetzt bin ich endlich angekommen. Ich denke an all die Sachen, die mir in der kommenden Woche bevorstehen. Das Vorstellungsgespräch als Deutschlehrerin an der Parkland High in Nordlondon findet erst in acht Tagen statt, aber bis dahin muss ich unbedingt eine Wohnung finden, und, fast noch wichtiger, Engländer kennenlernen.
Aber wo soll ich anfangen? Nachdem ich den Koffer ausgepackt habe, mache ich mir mit dem Wasserkocher, der in England zur Grundausrüstung gehört, eine Tasse Tee und beginne, in meinem dicken Reiseführer zu lesen. Darin heißt es,in London lerne man die Einheimischen am besten im Pub, im Park oder durch Freunde von Freunden kennen. Letzteres scheidet schon mal aus, da die wenigen Auswanderer unter meinen Bekannten sich alle entschlossen haben, in südlichere Gefilde als England zu ziehen.
Also habe ich zwei Möglichkeiten: Ich könnte mich in einen Pub setzen und dort warten, bis mich jemand anspricht, beziehungsweise mich selbst betrinken, so dass ich keine Scheu mehr habe, Fremde anzusprechen. Oder ich könnte mich mit einem Buch in den Park setzen und warten, bis ein selbstloser Londoner Mitleid mit mir empfindet. Die erste Option erscheint mir die weitaus angsteinflößendere, also mache ich mich am nächsten Tag mit meinem Reiseführer in der Hand auf zur Hampstead Heath .
Hampstead Heath ist eine riesige Grünfläche im Norden der Stadt, die mit der U-Bahn in zwanzig Minuten vom Stadtzentrum aus zu erreichen ist. Sie liegt auf einer Höhe von 80 Metern über dem Themsetal, so dass man bei gutem Wetter kilometerweit sehen kann. Besonders im Abendlicht hat man eine unvergessliche Aussicht – von den Wolkenkratzern des Londoner Finanzplatzes im Osten der Stadt über das angeleuchtete Riesenrad des London Eye am Südufer der Themse bis zu den Parkanlagen des Kew Gardens . Die Millionenstadt liegt einem dort zu Füßen.
An diesem Tag allerdings kann ich durch den Fisselregen gerade mal das gegenüberliegende Ufer des kleinen Badesees ausmachen, um den ich nonchalant auf meiner Freundessuche herumspaziere. Kaum jemand ist unterwegs. Ein Regenmantel und Stiefel tragender Mann läuft mit zwei ebenfalls in Regenmänteln gekleideten Rennhunden an mir vorbei, und eine jüngere Frau schiebt ihren Kinderwagen langsam Richtung Spielplatz. Ansonsten sind die einzigen anderen Parkbesucher an diesem Tag dicke, graue Eichhörnchen, die sich frech bis auf einige Meter an mich heranwagen und dann schwanzschlagend wegspringen. Meine potentiellen Bekannten jedoch haben wohlmehr Scharfsinn als ich und sitzen wahrscheinlich allesamt in einem trockenen Pub mit einem knisternden Feuer vor sich. Und ich werde mich jetzt zu ihnen gesellen. Ich drehe noch eine kleine Runde durch den stillen Park, der so gar nicht den Eindruck vermittelt, als wäre man mitten in einer Weltstadt, und mache mich dann auf nach Hampstead Village.
Der Pub ist der Mittelpunkt des englischen Lebens, ein zweites Wohnzimmer, in das man vor allen häuslichen Sorgen fliehen kann. Daher ist die Wahl des „Locals“, des Heimat-Pubs sozusagen, eine große Sache. Hausverkaufsannoncen schließen oft ab mit Bemerkungen wie: „Within 300 metres of nice, traditional pub“ – nur 300 Meter bis zum nächsten schönen Pub. Was den Verkaufspreis wahrscheinlich gleich ein paar tausend Pfund hochtreibt.
Was ich heute brauche, ist
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