Ein Jahr in London
habe die Freude und die wirklich nicht zu unterschätzende Ehre, Sie heute über unseren geliebten und verehrten Highgate Cemetery führen zu dürfen. Darf ich Sie also noch einmal herzlichst begrüßen und Sie bitten, mir nun diese kleine Anhöhe hinauf zu folgen.“ Und schon eilt er uns mit hochgerecktem Kinn und hastigem Schritt davon und wir kommen bald bei dem Versuch, mit ihm Schritt zu halten, ins Schwitzen. Wir atmen erleichtert auf, als Harry endlich stehen bleibt, um uns ein paar Anekdoten zu der Verstorbenen zu erzählen, deren Namen wir auf einem alten Grabstein mit Marmorengel vor uns sehen.
„Und dort drüben, Ladies and Gentlemen –“, er zeigt auf ein unscheinbares Grab, wie die anderen unter all dem Efeu und Unkraut kaum noch auszumachen, „dort drüben liegt ElizabethSiddal begraben, die Frau des großen Dichters und Malers Dante Gabriel Rossetti.“ Wieder eine lange, theatralische Pause.
„Wenn Sie eine rote Locke aus ihrer letzten Ruhestätte sprießen sehen, so wundern Sie sich nicht.“ Wir schauen uns alle eingehend nach einem roten Haarbüschel um, aber bis auf ein paar kupferverfärbte Efeublätter gibt es nichts zu sehen.
Dann erzählt uns Harry, wie Dante Rossetti nach dem Selbstmord seiner Frau und Muse ihr sämtliche seiner noch unveröffentlichten Liebesgedichte mit in das Grab gab, sie sieben Jahre später aber unbedingt wiederhaben wollte. Denn sein literarischer Erfolg war ausgeblieben und er glaubte, diese Gedichte könnten vielleicht zu seinem Meisterwerk werden.
„Also, Ladies and Gentlemen , ließ er seine Frau kurzerhand exhumieren. Das war im Jahre 1869. Doch als der Sarg geöffnet wurde, war der Schrecken groß.“ Wir schauen uns alle verängstigt an, und in diesem Moment landet auch noch eine Dohle in der Eiche über mir und kräht furchterregend.
Ein kleines Mädchen, das ängstlich an der Hand seines Vaters hängt, fängt an zu weinen.
„Elizabeth sah aus, als hätte sie sieben Jahre geschlafen. Kein Zeichen von Verfall war an ihrem Körper zu sehen, aber ihre langen, roten Locken waren nach ihrem Tod weiter gewachsen und füllten den ganzen Sarg aus. Dantes Gedichte mussten vorsichtig aus den Haaren rausgeschnitten werden.“
„Ich hoffe, sie waren nach all der Mühe wenigstens ein Erfolg“, sagt ein bierbäuchiger Mann im Fußballhemd.
„Leider nicht“, erklärt Harry. „Dante starb verkannt und drogenabhängig.“
„Ach, was für eine romantische Erzählung“, wirft der Fußballfan wieder ein. „Haben Sie noch mehr solche Storys parat?“
„Aber natürlich!“ Und weiter geht es, wir eilen an Mausoleen und uralten Zedern vorbei, und unser Führer erzählt uns eine Schauergeschichte nach der anderen, bis wir eine Stunde später wieder an der großen Friedhofspforte stehen. Völlig außer Atem setzen wir uns auf eine alte Steinmauer.
„Diese Führung sollte als Fitnesstraining angeboten werden. Zweimal in der Woche hier zwischen den Gräbern rumhechten und von dem hier bleibt nicht mehr viel übrig“, bemerkt der Fußballfan, auf seinen dicken Bauch zeigend.
„Ja, Ladies and Gentlemen, da sind wir also wieder, aufgestiegen aus den Toren des Hades, zurück im Licht der Lebenden. Ich wünsche Ihnen noch einen ausgezeichneten Abend. Einen höchst beglückenden Abend! Und auf dass wir uns bald wiedersehen.“
Harry verbeugt sich elegant, wir bedanken uns für die Führung und schon verschwindet er in dem kleinen Pförtnerhaus. Ich mache noch schnell ein paar Fotos und dann keuchen wir die steile Swains Lane hoch in Richtung Highgate Village.
„Time for a pint?“ , fragt Elli hoffnungsvoll. Felice und ich nicken sofort. Genug Kultur für einen Abend, finden wir alle drei.
„Auf zu einem höchst beglückenden Abend!“
Dennis ist so dankbar dafür, den Vampirjäger jetzt erst mal wieder für ein paar Monate abgeschüttelt zu haben, dass er mir eine andere wichtige Aufgabe zukommen lässt: Ich muss zu den Houses of Parliament , wo der Londoner Bürgermeister vor Journalisten aus aller Welt über seine Zukunftspläne für die Hauptstadt reden wird.
Als ich also in der kommenden Woche in einen unscheinbaren Raum in den berühmten Regierungsgebäuden geführt werde, sitzen dort schon an die hundert Reporter, die eifrig Notizen machen, während ihre Kulis im Blitzlicht der Kameras aufleuchten und merkwürdige Schatten an die Decke werfen. Ich setze mich neben eine vornehm gekleidete Lady in der mittleren Reihe, die mich mit „ Oh, hello !“
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