Ein Jahr in New York
versprochen hatte. Die Küche lag direkt im Eingangsbereich. Das Badezimmer war okay, auch wenn die von Petra angepriesene Wanne nicht gerade zu Schaumbädern verführte. Im Wohnzimmer prunkte eine geschmacklose Esstisch-Garnitur, daneben ein belangloses Sofa, vor dem ein monströsesFernsehgerät stand. Es gab zwar keinen Doorman, aber dafür dudelte in dem menschenleeren Flur ein Radio 24 Stunden am Tag. Warum, konnte mir niemand sagen. Harlem Renaissance hin oder her, ich fühlte mich, auch ohne zu wissen, wo ich eigentlich war, am Ende der Insel. Und die war 13,4 Meilen lang. Von wegen mittendrin. Downtown war mindestens 15 U-Bahn-Stopps entfernt. Und dort war das New York, für das ich Hamburg verlassen hatte.
Nah war nur der Central Park. 15 Blöcke entfernt, zwölf Minuten zu Fuß. Und hier wurde die Abgeschiedenheit zum Vorteil. Während halb Manhattan am Wochenende von der Südstirn, der Ost- und der Westflanke in den Park strömte, war man hier oben in Harlem im Norden fast allein. Ohne direkten Kontakt mit den 25 Millionen Besuchern, die jährlich auf der Suche nach Erholung und frischer Luft in den Park pilgern, war der urbane Naturersatz fast glaubhaft. Die grüne Lunge New Yorks, 1857 künstlich angelegt, vier Kilometer lang und 800 Meter schmal, ist fast doppelt so groß wie Monaco. Gebaut wurde diese Metropolen-Oase, weil die vom Großstadtleben, dem Lärm und Gedränge erschöpften New Yorker schon vor 150 Jahren großen Bedarf an Erholung hatten. Man erhoffte sich damals, mit einer grünen Zuflucht soziale Unruhen zu verhindern, und realisierte das Millionenprojekt trotz der damaligen Wirtschaftskrise. Arm und Reich sollten sich hier nebeneinander entspannen. Das scheiterte anfangs, denn die arme Bevölkerung konnte sich den Penny für die Busfahrt nicht leisten. Damals lag der Park weit oberhalb des Stadtzentrums, war von Brachland umgeben und nicht so einfach zu erreichen. Mittlerweile ist die Stadt längst über den Central Park hinausgewachsen, und der Park ist tatsächlich „central“. Gar nicht auszudenken, was wäre, wenn es diese Idylle mit denSeen, Wegen, Wiesen, Wäldchen, Sport- und Spielplätzen, dem Zoo, der Eislaufbahn im Winter, dem Pool im Sommer und dem alljährlichen Kulturangebot an Opern, Konzerten und Theaterstücken nicht gäbe.
Es war noch früher Sonntagvormittag. Die Sonne strahlte wie jeden Tag vom blauen Himmel. Der Herbst hatte schon begonnen, aber es lag noch so eine Ahnung von Sommer in der Luft. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Starbucks zu meiden. Aber ich war in Harlem und hatte keine andere Wahl. Ein nettes Café hatte sich trotz der Prophezeiung meiner Maklerin Petra leider bisher noch nicht in meine Nachbarschaft verirrt. „Latte, Venti, ja, ganz normale Milch, bitte.“ Um mich herum flogen komplizierte Bestellungen durch den Raum. Mit Sojamilch, aber ohne Schaum, dafür ein Spritzer Karamell, ach ja: entkoffeiniert, bitte. Hier standen offensichtlich massenerprobte Profis an der Espressomaschine. Geduldig und flink setzten sie jeden Extrawunsch in die Tat um. 171 Filialen bevölkern mittlerweile Manhattan, und vor jeder einzelnen Kasse wartet zu allen Tages- und Nachtzeiten eine lange Schlange koffeinhungriger Menschen. Diese Kaffeeketten-Epidemie war mir persönlich eher unsympathisch. Aber in New York ist die Starbucks-Dichte ziemlich praktisch, wie ich feststellte, als ich das erste Mal eine öffentliche Toilette suchte und nur hier fündig wurde. Ich spazierte also mit meinem Starbucks-Wappen-Pappbecher zum Central Park. Vor mir lag eine bunte Baumlandschaft, die in den schönsten Herbsttönen leuchtete. Ein Farbenmeer aus gelben, roten, braunen und teilweise noch grünen Blättern. Irgendwann wurde mir diese schöne, aber menschenleere Stille im Norden des Parks zu einsam. Mir selbst Gesellschaft zu leisten, das hatte ich den letzten Tagen zur Genüge getan. Mir war nach Menschen zumute. Ich lief also immer weiter RichtungSüden. Dort fand ich das, was sich die Visionäre und Erbauer des Parks damals gewünscht hatten: den New Yorker „Melting Pot“. Menschen aus über 200 Ländern, die mehr als 170 Sprachen sprechen. Die unterschiedlichsten Ethnien, Kulturen, Lebenseinstellungen, Denkweisen und Steuerklassen. Eine Metapher, mit der der russisch-jüdische Autor Israel Zangwill 1908 mit seinem gleichnamigen Theaterstück das erste Mal New York beschrieb und die noch heute greift. Nach einer Stunde war ich so ziemlich jedem Klischee-New-Yorker
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