Ein Jahr in New York
und hoffe, du wirst New York lieben“, sagte er zumAbschied und klang fast ein bisschen besorgt, dass ich von seiner geliebten Stadt nicht genauso begeistert sein könnte wie er. Er lachte mir aufmunternd zu, drehte sich um, und im nächsten Moment hatte ihn die Millionenmetropole schon verschluckt.
Da stand ich also verloren und überwältigt an der Bushaltestelle und schlug mein kleines Notizbuch auf: Madison Avenue, meine neue Adresse. Art-déco-Prunkbauten. Edle Designerboutiquen. Elegant geföhnte Damen in Chanel-Kostümchen. All das ging mir durch den Kopf, als ich vor einem Monat in meiner Hamburger Altbauwohnung saß und mir von der deutschen Immobilienmaklerin Petra aus New York ein Apartment andrehen ließ. Madison Avenue – einer der wenigen New Yorker Straßennamen, unter denen ich glaubte, mir etwas vorstellen zu können. Ich sah mich im Geiste schon auf dem Weg in mein neues Apartment durch die blitzblanke Lobby laufen. Vorbei am höflich grüßenden Doorman in seiner bordeauxroten Uniform. „Möblierte Wohnung mit Holzfußboden, Küche und Badezimmer mit Wanne auf der Madison Avenue. Perfekte Lage. U-Bahn-Linien rechts und links. Man ist im Nu überall“, versprach Petra. „Und in der Gegend möchte man wirklich wohnen?“, fragte ich noch mal unwissend nach. „Glaub mir, eine eigene Wohnung auf der Madison Avenue für tausend Dollar ist ein echter Glücksfall“, wich sie meiner Frage geschickt aus. Aus sechstausend Kilometer Entfernung in einer fremden Stadt eine Wohnung mieten? War das eine gute Idee? Und tausend Dollar für ein winziges Apartment war aus der Perspektive meiner hundert Quadratmeter großen, 700 Euro günstigen Altbauwohnung in St. Pauli nicht gerade ein Schnäppchen. Aber hatte ich eine andere Wahl? Weder hatte ich Freunde mit ausziehbaren Schlafsofas noch dasBudget für ein Hotel. Außerdem war die Aussicht, gleich nach Ankunft in meine eigene Wohnung fahren zu können, sehr verlockend. Auch der Luxus, sich keinen Wer-putzt-das-Badezimmer-WG-Debatten aussetzen zu müssen, schien das Risiko wert.
Ich starrte aus dem Fenster. Am Grand Central war ich direkt an der Madison Avenue in den Bus gestiegen, der gen Norden direkt bis vor meine neue Haustür fuhr. Anfangs sah es haargenau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vorbei am Armani Shop, dem Carlyle Hotel und dem Whitney Museum, einem Bauhaus-Meisterwerk von Marcel Breuer. Kurz darauf ließ der Bus langsam und bei jedem Stopp laut schniefend die 80. Straße hinter sich, und allmählich verändert sich das Bild. Die schicken Läden waren plötzlich verschwunden, auch die charmanten französischen Bistros. An deren Stelle traten Fast-Food-Imbisse und Häuser, die eher nach sozialem Wohnungsbau als nach Prestige-Architektur aussahen. Die in Ralph Lauren gekleideten Katalogmütter und mit Balenciaga-Handtaschen bewaffneten Damen waren mittlerweile ausgestiegen. In der 125. Straße angekommen, schaute ich mich um. Ja, tatsächlich, ich war die einzige hellhäutige Person im Bus. Und damit das erste Mal in meinem Leben in der ethnischen Minderheit. Willkommen in Harlem.
Vor der Tür wartete schon meine Immobilienmaklerin Petra. Ich hatte alles auf sie gesetzt und fühlte mich betrogen, noch bevor ich die Wohnung betreten hatte. Aber ich war zu erschöpft, die Zertrümmerung meiner naiven Illusionen zu thematisieren. Die unerwartete Identitätswandlung der Madison Avenue erinnerte mich an all die Warnungen, auf die ich in meinem Reiseführer zum Stadtteil Harlem gestoßen war. Bis dato hatte ich diese einfach ignoriert. „Laufen Sie nach Einbruch der Dunkelheit auf keinenFall ohne Begleitung durch Harlem“, stand da zum Beispiel. Ich hoffte noch immer, dass sich solche Vorsichtsmaßnahmen als längst überholt herausstellen sollten. Schließlich war das gefährliche New York der Achtziger, dank Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani, längst Vergangenheit. Hatte er nicht radikal aufgeräumt im düsteren Moloch New York und die Stadt von Übel und Kriminalität befreit – war das nicht lange überall Schlagzeile? Hatte ich nicht kürzlich sogar noch gelesen, dass New York die sicherste Großstadt der Staaten sei? Oder? Es wartete sicherlich kein Taxifahrer dieser Stadt mehr vor der Haustür, bis das Licht in der Wohnung des ausgestiegenen Fahrgastes anging, nur um sicherzustellen, dass dieser die zehn Meter zum eigenen Apartment überlebt hatte. Das war früher tatsächlich der Fall. Gruselgeschichten wie diese geben die
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