Ein Jahr in Stockholm
die Sällströms und Albertssons allesamt zum Zirkus gehen, stelle ich fest und überlege gleichzeitig, wer all das essen soll. Malin vielleicht. Sie zwingt keiner, Ballaststoffe durch die Gegend zu tragen.
„Sie schleppt schon genug mit sich rum“, sagt Bertil und formt mit den Händen Malins Schwangerschaftsbauch im Endstadium nach, der allmählich mit seinem eigenen konkurrieren kann. Wie ein Spürhund versucht er den Christbaum zu orten und reißt dabei eine Leine von der Wand, an der Postkarten und Polaroids hängen, die meine Familie geschickt hat. Sie zeigen meine Freunde und Weihnachtsgeschenke, einen Hund, frische Brezen und sonstige Lockmittel aus der Heimat.
Für jul , das schwedische Weihnachtsfest, haben wir die Wohnung mit weißen Hyazinthen, Kerzen, beleuchteten Papiersternen und selbstgebastelten Körbchen aus buntem Glanzpapier dekoriert. Eine Tanne jedoch gibt es nicht. An allen Ecken der Stadt, bei der Arbeit, in so ziemlich jedem Fenster gegenüber und sogar in den Eingangshallen der Wohnhäuser leuchten Weihnachtsbäume. Unserer darf draußen im Wald mit seiner Familie feiern – sofern davon noch wer übrig ist. Stattdessen haben wir abgebrochene Zweige,die mir ein Baumhändler am Valhallavägen überlassen hatte, in riesigen Vasen in der Wohnung verteilt. Die verströmen einen so intensiv harzigen Geruch, dass ich seit Tagen das Gefühl habe, inmitten eines Naturschutzgebiets aufzuwachen. Für mich ist es das perfekte Naturerlebnis, und für Bertil wird es wohl auch reichen.
„Wir haben keinen Baum.“ – „Und worum sollen wir bitte tanzen?“ Enttäuscht schlackert er mit den Fingern an den Ohren. Er wollte die små grodorna , die kleinen Frösche, um die Tanne tanzen. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen und verspreche, mir eine Alternative zu überlegen.
Vorerst aber muss die jüngere Generation die Wohnung verlassen, weil sich Eltern, Tanten und Onkel der Vorbereitung des julbord , des typisch schwedischen Weihnachtsessens, widmen wollen und sich jegliche Hilfe verbitten. Wir wandern also hinüber zum Tanto und werfen unter vielen Gleichgesinnten die kubb- Hölzer, bis wir es vor Hunger nicht mehr aushalten.
Dreizehn gierige Mäuler sitzen daraufhin um drei zu einer festlichen Tafel improvisierten Tischen und lassen sich den ersten Gang schmecken. Zu Pellkartoffeln gibt es Heringe, die Elisabet in den sieben Variationen Senf, Sahne, Dill, Curry, Kaviar, Zwiebeln und Rotwein mit Nelkenpfeffer eingelegt hat. Sogar mein Gaumen frohlockt. Nur Onkel Bertil verbreitet Hektik, weil er sich zum Sommelier ernannt hat und alle zehn Sekunden aufspringt, um ein leeres Wein- oder Schnapsglas aufzufüllen. Gang zwei widmet sich den Lachspasteten, Makrelen und gefüllten Eiern. So langsam kapiere ich, wofür Lars eine rekordverdächtige Auswahl an Schüsseln besitzt. In Runde drei schlagen wir uns mit geräuchertem Rentier, Elchsalami und Sülzen herum.
Als ich gerade dabei bin zu explodieren, ruft Bertil: „Zeit für den Hauptgang!“ Nun also werden die warmen Speisen aufgefahren. Mein Magen hebt sich. Ich beneide Malin umihre Umstandskleidung und überlege, auf eine Hose mit Gummizug umzusteigen.
Ich kann gar nicht hinsehen. Herrlicher Mariannelunds julskinka in Senfkruste (gegrillter Weihnachtsschinken), der traditionelle lutf isk (luftgetrockneter Dorsch), julkorv (weihnachtlich gewürzte Wurst), Rote Bete, Rotkohl, Grünkohl, Blumenkohl, Wild und Lachs. Wie immer, wenn die Sällströms/Albertssons in der Nähe sind, hat mein Darm Stress. Gut, dass Bertil für Ablenkung sorgt und keiner mitbekommt, wie ich Spielverderberin eine Pause einlege.
Der Onkel hat sich bestens vorbereitet. Er reißt einen Witz nach dem anderen, mischt überlauten Gesang darunter, den ich nicht verstehe, und hopst an offenbar hüpfrelevanten Stellen von seinem Stuhl auf wie ein verrückt gewordener Hochzeitslader. „Keine Angst, er macht uns nur wieder den Bellman“, murmelt mir Stig von der Seite zu und kaut weiter seine Rippchen, ohne dem außer Kontrolle geratenen Onkel mehr Beachtung als nötig zu schenken.
Carl Michael Bellman ist der bekannteste schwedische Liedermacher und Nationaldichter aus dem 18. Jahrhundert. Er führte ein Lotterleben, liebte volle Kneipen, volle Biergläser und vollbusige Frauen. Für sie ließ er viel Geld, das er nicht hatte, und als es seine Gläubiger wiederhaben wollten, flüchtete er über die norwegische Grenze. Bereits als Jüngling soll er im Fieberwahn in Versen
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