Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
machen –«
»Keine Sorge, Dad«, sage ich lachend. »Nicht mal im Traum!« Jedes Jahr haben wir die gleiche Unterhaltung. Wie er überhaupt auf die Idee kommt, dass ich so etwas in Erwägung ziehen könnte, ist mir schleierhaft.
»Jippeee!« Noch ein Aufklatschen, als der zweite Junge ins Wasser springt.
Ich schüttle mich schaudernd, als wir in Richtung Wehr weitergehen. Einen Sommer war es echt wahnsinnig heiß, und das Wehr war fast komplett ausgetrocknet. Man konnte die Staustufe sehen, die quer durch den Fluss läuft. Sie war nur von einer dünnen Wasserschicht bedeckt. Juli musste natürlich darüber klettern und forderte mich auf, es auch zu tun.
Ich versuchte nein zu sagen, aber wie ich ja schon berichtet habe, bei Juli funktioniert ein Nein nicht. Schließlich hat sie mich bei der Hand genommen und mich hinübergezerrt. Ich umklammerte ihre Hand so fest, dass sie eine Woche lang rote Stellen von meinen Fingernägeln in der Handfläche hatte.
Es war ein wahnsinniges Gefühl, auf der anderen Seite zu sein, daher war ich froh, dass sie mich überredet hatte – wie meistens. Aber ich selbst würde so etwas nie allein machen. Nicht in einer Million Jahren. Es ist nicht so, dass ich ein kompletter Angsthase bin; aber, na ja, es ist doch schließlich gefährlich! Es sieht vielleicht ungefährlich aus, aber man weiß doch nie, was darunter ist oder wie rutschig so eine Mauer ist oder ob der Fluss plötzlich steigt und man fortgespült wird und bewusstlos auf den Felsen unten liegen bleibt. Wirklich viel zu riskant, und Familie Green steht nicht auf riskant. Wir mögen es, wenn die Dinge geordnet, sicher, berechenbar sind. Deshalb kommen wir her. Hier ist immer alles berechenbar.
War es zumindest immer – bis zu diesem Mal.
2
Als wir über die moosbedeckten Felsbrocken steigen, deutet Dad auf den Sprühregen, der über dem Wehr zu sehen ist. Das Wasser stürzt mit solcher Macht herunter, dass wir schreien müssen, um uns zu verständigen. Wie die Niagarafälle.
»Kein Wunder nach dem vielen Regen in diesem Frühjahr!«, ruft Dad mir ins Ohr.
Ich trete zurück, als die Gischt von einem Felsen unter uns hochschlägt. »Lass uns umkehren!«, rufe ich.
Auf dem Weg zurück begegnen wir Mr Andrews, einem von Dads Freunden. Ich sehe mir den Wald auf der anderen Uferseite an, während sie plaudern. Reihenweise hohe, stämmige Bäume mit dichtem, sattgrünem Laub, die sich stolz und unnahbar erheben, als wüssten sie mehr als wir. Sie kennen alles. Davor eine Wiese, auf der der Klee über und über blüht. Wie machen die Pflanzen das? Woher wissen die Blumen, wann sie blühen, und die Bäume, wann sie ihre Blätter abwerfen müssen?
»Komm, Rübchen.« Dad stößt mich an, und ich winke Mr Andrews kurz zu und lächle verlegen, dann gehen wir weiter. Merkt Dad vielleicht irgendwann mal , dass ich für seine Kosenamen zu groß bin? Traue ich mich irgendwann mal, es ihm zu sagen?
Wir gehen in das Freizeitzentrum, damit Dad einen Squash-Platz für sich und Mr Andrews buchen kann. Er spielt nie Squash, außer wenn wir hier sind; keine Ahnung, warum gerade hier. Einmal habe ich ihm eine Weile zugesehen. Dad ist ganz spindeldürr. Er hat ausgesehen wie eine Spinne auf dem Eis, so ist er auf dem Platz herumgeschlittert und an die Wände gekracht; hat sich lauter blaue Flecken geholt, während Mr Andrews kaum ins Schwitzen gekommen ist.
Dad bucht den Platz für morgen Nachmittag, dann bleibt er stehen und redet mit dem Empfangschef. Währenddessen sehe ich mich in dem Miniladen um. Es gibt eine Stange mit winzigen Sportsachen und knappen Badeanzügen und sechs Fächer mit Schokolade und anderen Süßigkeiten. Ich habe nie ganz verstanden, wie das zusammenpassen soll.
»Nur eine kleine Überraschung für Mum«, sagt Dad und hängt sich bei mir ein. Er schiebt einen Gutschein für eine kosmetische Gesichtsbehandlung in die Tasche.
Morgen ist ihr Hochzeitstag. Fünfzehn Jahre. Sie sind immer noch ganz liebevoll miteinander und haben fast nie Streit. Klar, manchmal zanken sie ein bisschen. Aber auch nicht mehr als andere Eltern und ungefähr hundert Mal weniger als Julis Eltern. Deren Auseinandersetzungen sind wie Vulkanausbrüche. Gerade noch sind sie ganz entspannt und gelassen, und auf einmal gehen sie sich fast an die Kehle. Juli sagt, so sei das eben bei Künstlern. Es sei das kreative Temperament.
»Wenn ich mal Ihre Aufmerksamkeit haben dürfte!« Mr Barraclough klopft mit einem Löffel an sein Glas,
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