Ein Kuss vor Mitternacht
sie sich an ihn, wusste nur, dass sie ihn entrüstet von sich stoßen sollte, dazu aber nicht die Kraft hatte.
Vorsichtig legte sie die Hände auf seine breiten Schultern, als suche sie Halt und Schutz vor den befremdlichen Empfindungen, die auf sie einstürmten. Er schlang einen Arm um ihre Mitte und zog Constance an sich, streichelte mit der anderen Hand zärtlich ihren Nacken, während er sie genießerisch küsste.
Constance befürchtete, ihre Knie würden ihr ohne seine stützenden Arme den Dienst versagen; ihr war, als verliere sie den Boden unter den Füßen und sinke ins Nichts.
Nie gekannte machtvolle Gefühle durchströmten sie. Nicht einmal damals, als sie mit neunzehn in Gareth Hamilton verliebt gewesen war, hatte sie vergleichbare Empfindungen gehabt. Gareth hatte sie geküsst, als er sie bat, seine Frau zu werden, und sie hatte gedacht, es könne keine süßeren Wonnen im Leben geben. Das hatte später alles nur schmerzlicher gemacht, als sie sich gezwungen sah, seinen Antrag abzulehnen, um ihren kranken Vater zu pflegen. Aber an Lord Leightons Umarmung war nichts Süßes, sie war fordernd und leidenschaftlich, und sein Kuss entfachte ein brennendes Sehnen in ihr. Dabei kannte sie diesen Mann kaum, der sie in ihren Grundfesten erbeben ließ und es ihr unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er hob den Kopf, und einen langen Moment blickten sie einander tief in die Augen, beide aufgewühlt und verwirrt, ohne es dem anderen einzugestehen. Leighton holte tief Atem, gab Constance zögernd frei und trat einen Schritt zurück. Sie starrte ihn mit großen Augen an, dann machte sie kehrt und floh.
Der Korridor vor der Bibliothek war zu Constances Erleichterung menschenleer. Wie zerzaust mochte sie wohl aussehen? Wenn ihr Äußeres in etwa dem Tumult glich, der in ihr tobte, würde jeder Gast, dem sie begegnete, stehen bleiben und sich erschrocken nach ihrem Befinden erkundigen. Das Herz trommelte in ihrer Brust, und es würde ihr sicher nicht gelingen, auch nur ein Wort herauszubringen, fürchtete sie.
Auf halbem Weg den Flur entlang, betrachtete sie sich prüfend in einem Wandspiegel. Ihre grauen Augen glänzten, ihre Wangen glühten, ihre schwellenden Lippen leuchteten rosig. Sie sah hübscher aus als sonst, stellte sie fest. Würden andere bemerken, dass sie soeben etwas Verbotenes getan hatte?
Mit zitternden Fingern steckte sie ein paar fürwitzige Löckchen in den Nackenknoten und atmete mehrmals tief durch. Ihr innerer Aufruhr ließ sich indes nicht so einfach ordnen wie ihr Haar. Beunruhigende Gedanken wirbelten ihr durch den Sinn und ließen sich nicht vertreiben.
Wieso hatte Lord Leighton sie geküsst? War er lediglich ein Frauenheld, ein berechnender Verführer, der wehrlosen Frauen auflauerte? Dabei hatte er einen durchaus angenehmen Eindruck gemacht. Er sah nicht nur gut aus, er besaß auch Charme und geistreichen Humor. Andererseits waren dies nicht genau die Eigenschaften, die einen Herzensbrecher ausmachten? Welche Frau ließe sich nicht vom Charme eines gut aussehenden jungen Mannes betören?
Dennoch vermochte Constance diesen Lord Leighton nicht für einen leichtlebigen Verführer zu halten. Sie dachte an den Ausdruck des Erstaunens in seinem Gesicht, als er seine Arme von ihr gelöst hatte, geradeso, als würde er sich darüber wundern, was zwischen ihnen geschehen war. Im Übrigen hatte er sich keine weiteren Freizügigkeiten erlaubt – wobei sie vermutlich keinen Widerstand geleistet hätte in ihrer Benommenheit. Er war es gewesen, der den Kuss beendet hatte, und das könnte der Beweis sein, dass er zu höflich und feinfühlig war, um Vorteile aus einer heiklen Situation zu ziehen.
Zugegeben, er hatte ihr in einer ungestümen Aufwallung einen Kuss aufgedrängt. Aber sein Kuss hatte als sanfte Berührung begonnen, die sich leidenschaftlich vertiefte. Hatte er nur einen harmlosen kleinen Kuss beabsichtigt und war von einem plötzlichen Verlangen übermannt worden, genau wie es ihr ergangen war?
Dieser Gedanke zauberte ein feines Lächeln der Genugtuung auf Constances Lippen. Die Erkenntnis, dass nicht nur sie einer sinnlichen Versuchung erlegen war, schmeichelte ihr ein wenig.
Sie warf einen zweiten Blick in den Spiegel. Hatte der Viscount sie möglicherweise hübsch gefunden in ihrem einfachen Kleid? Sie betrachtete prüfend ihr ovales Gesicht. Eigentlich wirkte sie nicht wesentlich älter als damals mit zwanzig. Und außer Gareth war sie noch einigen Männern
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