Ein Kuss vor Mitternacht
leugnen, dass sie selbst einen Nadelstich der Eifersucht verspürte, als Lord Leighton begann, mit der Dame zu tanzen.
Wie dem auch sei, daran war nichts zu ändern, und Constance setzte ihre Suche nach ihren Verwandten fort. Sie schlenderte durch den Saal und bahnte sich einen Weg an den in kleinen Gruppen zusammenstehenden Gästen vorbei. Währenddessen stellte sie einigermaßen verwundert fest, dass einige Herren und Damen ihr zunickten und sich verneigten, darunter die jungen Herren, mit denen sie getanzt hatte, und Damen, die sich mit Lady Haughston unterhalten hatten. Wiederum waren andere ihr völlig unbekannt. Erstaunlich, wie rasch man dank Lady Haughstons Protektion in der Gunst der Gesellschaft stieg, überlegte Constance.
Sie umrundete eine größere Gruppe am Rande des Tanzparketts, entdeckte schließlich ihre Verwandten und näherte sich ihnen. Tante Blanche empfing sie mit eisiger Miene, und Constance seufzte innerlich. Offenbar war sie ihr immer noch böse wegen der Auseinandersetzung tags zuvor. Tante Blanche hatte zwar nicht versucht, ihr den Ballbesuch zu verbieten, da ihr klar geworden war, wie töricht es wäre, sich mit Lady Haughston zu überwerfen, aber es behagte ihr ganz und gar nicht, dass ihre Nichte sich von ihr keine Vorschriften mehr machen ließ.
Constance begrüßte Tante Blanche mit einem Lächeln, das nicht erwidert wurde.
„Aha, hast du dich nun doch noch entschlossen, deine Familie mit deiner Gegenwart zu beehren“, sagte sie spitz. „Aber wir scheinen dir ja nicht mehr wichtig zu sein. Du hast nur noch Augen für Lady Haughston und ihre Freunde.“
„Aber das stimmt nicht, Tante“, entgegnete Constance und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. „Nachdem Lady Haughston uns freundlicherweise eine Einladung zu diesem Ball ermöglichte und mich bat, sie zu begleiten, finde ich es nur höflich und angemessen, ihr Gesellschaft zu leisten.“
Tante Blanche registrierte Constances sachliche Feststellung mit einem missbilligenden Schnauben. „O ja, ausgesprochen höflich – dich in Szene zu setzen … und mit allen Herren zu tanzen. Du benimmst dich wie ein junges Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau. Und dieses überladene Kleid! Ich bin sicher, dass die Leute über dich lachen, so wie du dich aufführst.“
Constances Wangen wurden flammend rot, teils vor Verlegenheit, teils vor Zorn. „Tante Blanche! Du tust mir unrecht. Auf welche Weise sollte ich mich in Szene gesetzt haben? Lady Haughston stellte mir jeden der Herren nach allen Regeln der Etikette vor. Was kann falsch daran sein, mit Herren zu tanzen, die Lady Haughston baten, mich aufs Parkett führen zu dürfen? Und was hast du an meinem Kleid zu bemängeln?“
Sie blickte an sich herab, um dann demonstrativ das Kleid ihrer Tante zu betrachten, das mehr Busen zeigte als das ihre. „An meinem Kleid ist nichts Anstößiges.“
„Die Farbe ist viel zu jugendlich für dich“, behauptete Tante Blanche störrisch. „Du bist kein junges Mädchen mehr, Constance. Eine Frau in deinem Alter, die so tanzt und flirtet wie du, das ist … nun ja, es ist eine Schande.“
„Mir war nicht bewusst, dass eine Frau ab einem gewissen Alter nicht mehr tanzen darf“, erwiderte Constance kühl. „Vielleicht solltest du einige Damen auf der Tanzfläche auf diese neue Gesellschaftsregel aufmerksam machen.“
„Ich spreche nicht von verheirateten Frauen“, erklärte Tante Blanche. „Natürlich spricht nichts dagegen, wenn eine verheiratete Frau mit ihrem Gatten oder mit einem Freund des Hauses tanzt. Aber für eine ledige Frau ist es absolut unschicklich.“
„Warum?“, fragte Constance.
Ihre Tante wirkte verblüfft. „Was meinst du damit?“
„Genau das, was ich sagte“, entgegnete Constance, deren graue Augen nun wütend funkelten. „Wieso ist es unschicklich zu tanzen, wenn man nicht verheiratet ist? Ab welchem Alter darf eine unverheiratete Frau nicht mehr tanzen? Ab zwanzig? Fünfundzwanzig? Sind auch Männer von dieser Regelung betroffen? Dürfen Junggesellen auch nicht tanzen?“
„Unsinn. Rede kein dummes Zeug. Es gibt keine festen Regeln. Es ist nur allgemein üblich, dass eine unverheiratete Frau …“
„Aufhört zu existieren?“, fiel Constance ihr ins Wort. „Ich bitte dich, Tante Blanche, das klingt ja, als müsse eine Frau sich beschämt in ein Schneckenhaus zurückziehen, wenn sie es nicht geschafft hat, sich einen Ehemann zu ergattern.“
„Tja, wenn dir das bisher nicht gelungen
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