vergissdeinnicht
Tag 3
Ich traf Ethan in der Nacht, in der ich mich umbringen wollte. Ziemlich unpassend, wenn man so drüber nachdenkt.
Durch meinen Kopf schwirren immer wieder dieselben Fragen:
Was will er von mir?
Wie konnte ich das zulassen?
WERDE ICH STERBEN ? (Die mag ich besonders gerne.)
So hatte ich das nicht geplant. Dabei mag ich es schon , wenn alles nach Plan läuft.
Aber der Reihe nach: Ich fange einfach mal an zu schreiben, und dann sehen wir, wo das hinführt. Dazu ist das ganze Papier ja wahrscheinlich auch da. Und die Stifte. Sieht so aus, als wären das genug Stifte für eine ziemlich lange Zeit. Das ist richtig, richtig schlecht. Vielleicht leg ich mich erst noch mal einen Moment hin.
* * *
Keine Ahnung, wie lang ich gepennt habe. Ich hab meine Uhr nicht mehr. Meine Kleider auch nicht. Wenn ich dran denke, dass er mich ausgezogen hat, als ich bewusstlos war – das ist mehr als peinlich. Und dieses Nachthemd ist auch nicht wirklich stylisch. Ich komme mir vor, als würde ich gleich operiert werden. Verdammt, ich hoffe echt , dass das nicht geplant ist. Schließlich hänge ich schon irgendwie an meinen inneren Organen. Ich werde offenbar gerade wahnsinnig – sonst würde ich jetzt keine Witze reißen. Aber ich war schon immer gut darin, im falschen Moment Witze zu reißen.
Ich muss irgendwie hier rauskommen. Vielleicht lässt er mitsich reden. Ich muss nur rausfinden, was er will. Aber ein Teil von mir will das gar nicht wissen.
Scheiße … Ich glaube, er kommt.
* * *
Gut, das war kurz und knapp. Er kam nur mit meinem Essen auf einem Tablett rein, sah mich mit dem Stift in der Hand am Tisch sitzen und nickte. Er schien sich drüber zu freuen. Ich saß da wie eine Idiotin und glotzte ihn an. Er versuchte gar nicht zu lesen, was ich geschrieben hatte – sah mich nur wieder auf diese Art an … Wenn er mich so ansieht, bin ich mir sicher, dass er ganz genau weiß, was ich denke. Und dann war er wieder weg. Die Tür hat er natürlich hinter sich verriegelt.
Das Essen war lecker. Das ist nur eine von vielen, vielen abgefahrenen Sachen, die hier passieren. Das Essen ist toll. Und von wie vielen Entführungen hat man schon gehört, bei denen das Opfer sein eigenes Badezimmer hatte? Und das wahrscheinlich gemütlichste Bett auf der ganzen Welt. Ich wünschte nur, dass nicht alles so weiß wäre. Davon bekomm ich Kopfweh. Manchmal muss ich die Augen zumachen, um mich daran zu erinnern, dass es tatsächlich noch andere Farben im Universum gibt. Wenigstens sind diese Stifte nicht weiß. Das wäre ziemlich nervig, sag ich mal. Schreiben hilft nämlich wirklich . Allein schon der reine Mechanismus: Buchstaben zu bilden, die dann Wörter ergeben, die dann wie durch Zauberei zusammen einen Satz ergeben. Das beruhigt irgendwie. Aber was soll ich schreiben? Und warum will er, dass ich schreibe? Krank krank krank. Obwohl, vielleicht ist das meine große Chance, Schriftstellerin zu werden, wie ich es mir immer gewünscht habe. Meine letzte Chance wahrscheinlich.
Wie auch immer, man soll ja über das schreiben, was man kennt, oder? Also fange ich mit Ethan an. Wer weiß, vielleicht macht ihn eines Tages jemand ausfindig (wahrscheinlich Jahre, nachdem mein Skelett mit dem Stift in der knöchernen Handan diesem verschissenen Tisch gefunden wurde). Ich denke, er ist so eins achtzig groß. Das ist grob geschätzt im Vergleich zu Nat, der behauptet, er wäre eins achtzig, dabei ist er ganz sicher nicht größer als eins fünfundsiebzig. Wer einmal lügt …
Aber zurück zu Ethan. Er ist wunderschön. Ich meine richtig wunderschön. Er hat schwarzes Haar. Es ist irgendwo zwischen kurz und lang, und eine Strähne fällt ihm immer vor die Augen. Seine Augen … also, die sind grau. Metallisch grau? Schiefergrau? Himmel-vor-einem-gewaltigen-Sommergewitter-grau? Vielleicht einfach nur stinknormales Grau-grau. Sein Gesicht ist perfekt. Ehrlich, es sieht aus, als wäre er gerade erst aus einem Gemälde gefallen oder so was. Wangenknochen, Augenbrauen, Nase, Kinn. An ihm ist alles genau richtig. Und dann dieser Mund … Er hat die tollsten Lippen, die ich je gesehen hab. Ich hab sie gerne geküsst.
Also, was noch, was noch? Er ist blass, echt blass. So Ich-hab-noch-nie-das-Tageslicht-gesehen-weil-ich-in-echt-ein-Vampir-bin-blass. In einem kurzen Anfall von Wahnsinn dachte ich gestern (nach einer komplett schlaflosen Nacht), dass er vielleicht wirklich ein Vampir ist. Bis mir eingefallen ist, dass mein Leben nicht wirklich
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