Ein leicht versalzenes Jahr
Sitzt im November noch das Laub, wird der Winter hart, das glaub
Zugegeben. Der November gehörte noch nie zu meinen Lieblingsmonaten. Diese trübe und verhangene Jahreszeit steht für die Farbe Grau. Nicht so in diesem Jahr. Mein diesjähriger November ist schwarz. Tief schwarz. Seitdem die Tierärztin mir sagte, dass die Zeit gekommen ist, meinen Kurt zu erlösen, stecke ich in tiefer Verzweiflung und Trauer fest. Ihm eine weitere Aufbauspritze zu verabreichen, würde an seinem Zustand nichts mehr ändern, war die feste Überzeugung der Veterinärin. Für einen so großen Hund, wie Kurt es ist, hätte er doch ein stolzes Alter. Und ein schönes Leben hatte er doch auch bei mir gehabt. Warum ihn also weiter leiden lassen? Mein Verstand sagt »Ja, Sie haben Recht«, aber mein Gefühl schreit laut »NEIN, bitte noch nicht!«
Seit drei Tagen lasse ich ihn nicht mehr aus den Augen. Er kann aus eigener Kraft kaum noch aufstehen und rutscht immer wieder mit seinen Hinterbeinen auf dem glatten Parkett aus. Ich habe schon mehrere Teppiche und Läufer auf dem Boden verteilt, um ihm einen besseren Untergrund zu bieten, aber gerade dort legt er sich nicht hin. Julian hat sich angeboten, diesen schweren Weg für mich zu übernehmen, aber ich lehnte ab. Schließlich bin ich es meinem treuen Gefährten schuldig, ihn auf seinem letzten Gang zu begleiten.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon im Auto auf dem Parkplatz vor der Kleintierklinik sitze und Rotz und Wasser heule. Auf dem Beifahrersitz liegen sein Halsband, seine Leine und die Rechnung über 138 Euro. So viel hat das Einschläfern meines besten Kumpels gekostet. Eins ist klar. Nüchtern überstehe ich diesen Tag nicht. Sobald ich zu Hause angekommen bin, werde ich einen doppelten Schnaps trinken. Oder auch mehr. Eher mehr. Während der Fahrt zupfe ich mir Überbleibsel seines hellen Felles von meiner schwarzen Hose. Bei jedem Hundehaar dreht sich mir der Magen um und ein weiterer Sturzbach an Tränen läuft über meine Wangen. Meine Augen sind verquollen und meine Nase leuchtet tief rot aus meinem blassen Gesicht. Papiertaschentücher habe ich keine mehr zur Hand und so schniefe ich immer wieder hoch.
Vor der Hausnummer 12 parken keine Wagen mehr und ich bin froh, dass meine Mitarbeiter bereits Feierabend gemacht haben und ich ihnen nicht mehr lang und breit vom traurigen Abschied berichten muss. Auch ohne Maria haben sie heute wieder das gesteckte Tagespensum erreicht. Eine Dauerlösung ist es aber nicht. Wenn sie sich nicht bald entscheidet, wieder zurückzukommen, muss ich Ersatz für sie einstellen. Eine schier unlösbare Aufgabe. Maria ist nicht zu ersetzen. Genauso wenig wie mein Kurt. Martin hatte den Vorschlag gemacht, gleich einen neuen Hund zu kaufen. Einen kleinen, knuddeligen Welpen, der mich auf Trapp hält und mein Herz im Sturm erobert. Das kann nur ein Mensch sagen, der selber nie einen eigenen Hund hatte.
»Ich würde dich so gerne trösten, aber es wird spät heute«, höre ich ihn am Telefon sagen. Ich bin nicht verwundert. Nichts anderes kenne ich von ihm.
»Nicht schlimm«, sage ich, denn ich habe bereits einen anderen Seelentröster gefunden. Einen selbstgebrannten Grappa aus Kalabrien, den Sergio mir in der letzten Woche zum Probieren überreichte. Mild aber extrem hochprozentig. Seinen Tipp, den klaren Schnaps mit Kaffee zu trinken, lobe ich laut aus. Nach dem dritten Gedeck kriecht wieder die Hitze in mir hoch und ich habe das Gefühl, in einer Sauna festzustecken. Mit meiner Kaffeetasse und dem Schnapsglas setze ich mich auf die Terrasse, um mich im abendlichen Nebel abzukühlen. Es ist schon dunkel draußen und trotzdem hantiert King Kong mit seinem neuen Spielzeug auf der Straße herum. Er hat sich einen Turbo Laubsauger zugelegt. Das Ding macht einen solchen Höllenlärm, dass er beim Pusten der Blätter einen Ohrenschutz trägt. Ich habe keinen Ohrenschutz und verziehe mich mal wieder genervt ins Haus zurück. Wenn ich das rechte Auge schließe, sehe ich klar und ich weiß, dass nur noch ein weiterer Grappa nötig ist, um mich komplett abzuschießen. Aber soweit kommt es nicht, denn es klingelt an der Tür.
»Frau Talbach? Charlotte? Ich bin‘s. Gerlinde. Gerlinde Seibert. Deine Schwiegermutter in spe.«
Ich möchte auf der Stelle im Erdboden versinken. Martins Mutter. Unser erstes Zusammentreffen und ich bin völlig betrunken. Natürlich bitte ich sie herein, obwohl meine innere Stimme ruft »Hätten Sie Ihren Besuch
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