Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Heizung saß und tat, als würde sie Abenas Liebesbrief lauschen, machte Orla eine Erfahrung, die sie sich immer von Pilates-Kursen versprochen hatte, die aber nie eingetreten war: Sie fühlte sich größer.
Sie hatte genug herumgesessen und gewartet. Was hatte sie davon gehabt? Sie war starr dagesessen wie eine Geisha, als Sim ihr Weihnachten und Silvester vermasselt hatte, dabei hätten die Fetzen fliegen müssen. Sie hatte mit gesenktem Kopf vor Lucy Quinn gesessen, aus Angst, dass ihr ein Wort Dialekt entschlüpfte, statt sich wie die temperamentvolle Irin zu verhalten, zu der ihre Eltern sie erzogen hatten. Und jetzt lungerte sie herum wie ein Schulmädchen, um sich von Marek aufstöbern zu lassen.
Und warum sollte er das tun?
Wie konnte Marek ihr sein Seelenheil anvertrauen? Er wusste nicht einmal, dass sie ihn liebte. Er wusste nicht, dass sie durch sein kultiviertes Äußeres hindurchblickte auf die Verletzlichkeit, die darunterlag. Er wusste nicht, dass sie ihn beschützen wollte, so wie er versucht hatte, sie zu beschützen.
Vor ihr tat sich eine Weggabelung auf. Wenn sie die richtige Abzweigung nahm, konnte Orla eine große Last hinter sich lassen.
«Bitte, hören Sie zu?» Abena war empört.
«Natürlich.»
«Sie sehen nicht aus, als würden Sie zuhören. Sie sehen aus, wie wenn Sie schmieden einen bösen Plan.»
«Bitte lesen Sie weiter, Abena.»
Abenas Brief an einen Mann, dem zu Hause eine Autowerkstatt gehörte, war lang und obszön und endete mit dem Versprechen, dass sie «viele Kinder gebären und das Haus sauber halten» würde.
«Aber Sie wollen doch Lehrerin werden, wenn Sie zurückkommen!» Orla war bestürzt darüber, wie Abena ihren Feminismus für die Liebe über Bord geworfen hatte.
«Aber ich sage ihm das nicht», entgegnete Abena mit verhaltenem Gesichtsausdruck. «Er findet das heraus, wenn er mich geheiratet hat, und dann es ist zu spät!» Sie kicherte, ihr Doppelkinn wackelte, und der ganze Raum kicherte mit ihr. Von Abena geliebt zu werden, musste sein, wie in der Druckwelle eines Düsenjets zu stehen, dachte Orla. Sie beneidete und bemitleidete den Werkstattbesitzer zugleich.
Während sie sich die Liebeserklärungen ihrer Studenten anhörte, kritzelte sie selbst eine auf ihren Notizblock.
Lieber Sim, ich verzeihe dir.
Alles Liebe, deine Fee x
Maude war wieder gesund und munter und tauschte mit Orla ohne Umstände die Rollen. Sie untersuchte ihre Patientin auf Symptome. «Noch eine Woche bis du-weißt-schon-was, Liebes», sagte sie, als sie zusammen den abscheulichen Kuchen aßen, den Sheraz mit der wöchentlichen Lieferung abgegeben hatte. «Wie sollen wir den Tag verbringen? Es ist eine böse Ironie, ausgerechnet an dem Tag einen Todestag begehen zu müssen, an dem die ganze Welt die Liebe feiert.»
«Ich habe schon etwas vor», sagte Orla. «Etwas …» Sie schickte Maude einen verständnisheischenden Blick. «Etwas Privates.»
«Gut, gut.» Maude tätschelte ihre Hand. Orla liebte die Berührung ihrer papiernen Haut. «Ich bin da, falls du mich brauchst.»
«Danke, Maudie.» Orla wusste, dass Maude eingeschritten war und Bogna ihre geplante Valentinsdekoration untersagt hatte. Sie hatte die Herzen aus Seidenpapier im Müll gesehen. «Ich werde den Tag auf meine Weise begehen.»
Sims Tagebuch
14 . Januar 2012 , fünf Uhr morgens
Sankt Valentin, du alter Mistkerl, ich brauche jetzt jede Unterstützung, die du mir geben kannst.
Kapitel sechsunddreißig
D ie Lampen leuchteten gegen den malvenfarbenen Ausklang der Nacht an. Vor Sonnenaufgang fühlte sich die Wohnung irgendwie besonders an, wie ein Haus, in dem heute geheiratet werden sollte. Die zuckerüberzogene Valentinshysterie draußen vor der Tür hatte nichts damit zu tun: Orla fühlte sich wie elektrisiert. Sie war nervös, beschwingt und ziemlich furchtsam.
Klick. Radio aus. Den Ansturm kitschiger Hörerwünsche konnte sie ertragen, aber ein Heiratsantrag durch die Vermittlung des idiotischen Moderators war zu viel.
In Momenten wie diesen wünschte sich Orla, sie würde rauchen. Ihre Hände mussten irgendwie beschäftigt werden. Sie war viel zu früh aufgestanden, weil der Anlass es zu erfordern schien, aber nun streunte sie durch ihre kurze Zimmerflucht und fragte sich, wo sie morgen bei Sonnenaufgang wäre und wie es ihr gehen würde.
London erwachte und verfiel ungeachtet ihrer Aufregung in seinen üblichen Trott. Die obere Hälfte der Busse, die an ihrem Fenster vorbeifuhren, waren erst leer,
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