Ein letzter Brief von dir (German Edition)
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Grafschaft Dublin
14 . Februar 2012
07 : 18 Uhr
Orla hatte die geradezu unheimliche Fähigkeit, immer genau zu wissen, wie viel Uhr es war. Und so wusste sie schon in der Sekunde, in der sie erwachte, dass es nur noch ein paar Minuten dauern würde, bis der Wecker losrasselte. Sie kniff die Augen fest zusammen und klammerte sich trotzig an die Nacht. Im Schlafzimmer war es dunkel, die Welt draußen noch still. Man hörte nur das Zwitschern der Schwalben im großen, kahlen Baum vor dem Fenster.
Heute war … welcher Wochentag? Dienstag? Orla stöhnte. Dienstag bedeutete Sportunterricht. Achtundzwanzig Siebenjährige, die mit roten Nasen und Knien auf eiskaltem Asphalt von einem Fuß auf den anderen hopsten und jammerten: «Können wir jetzt endlich wieder rein, Miss Cassidy?» Orla wickelte sich fester in ihre Bettdecke. Auf dem Acker hinter dem Haus rülpste der Auspuff eines Traktors. Sie lächelte in sich hinein.
Irische Verkehrsrowdys.
Das würde sie später Sim erzählen, wenn sie skypten. Er würde das bestimmt lustig finden.
Sim war leicht zum Lachen zu bringen, aber Orla war trotzdem immer ein bisschen stolz, wenn sie ihm ein Kichern entlockte. Sie erkannte sein echtes Lachen sofort, es war irgendwie satter als sein höfliches, diplomatisches Lachen. Orla liebte Sims Kichern. Und sie vermisste es.
Jahrelang hatte sich ihr Freund mit gelegentlichen Auftritten in Dubliner Theatern über Wasser gehalten, bis er endlich die Hauptrolle im neuesten Kostümfilm der BBC ergatterte. Das war sein großer Durchbruch. Die Rolle passte perfekt zu Sim – er musste Satinkniehosen tragen, reiten und kraft seines Lächelns Herzen brechen, und seine Kollegen platzten fast vor Neid. Mit der Marketingwucht der BBC im Hintergrund bedeutete die Rolle einen echten Karriereschub. Orla war überglücklich gewesen, als er ihr die Neuigkeit eröffnete. Sie war auf und ab gehüpft, hatte in die Hände geklatscht und ihn von oben bis unten abgeküsst – bis sie hörte, dass er für fünf Monate nach London ziehen würde.
«Komm doch mit!», hatte Sim mit funkelnden Augen vorgeschlagen. Er las niemals das Kleingedruckte des Lebens.
«Aber mein Job», hatte Orla gesagt. «Mein Zuhause. Meine Familie. Und, nicht zu vergessen, meine
geistige Gesundheit
.»
Sie hatte keine Lust, ein Ersatzteil in seinem Leben zu sein, und trotz seines Bittens und Bettelns blieb sie bei ihrer Entscheidung. Auch eine verliebte Frau musste schließlich vernünftig sein, und seine Abwesenheit hatte ja auch gewisse Vorteile. Die Fahrerei nach Dublin zwei- oder dreimal in der Woche würde sie nicht vermissen, und ganz sicher konnte sie auch auf Sims Murren über die ewig verstopfte Autobahn verzichten, wenn er herausfuhr, um sie in Tobercree zu besuchen. Wenn Sim in London war, konnte Orla die Abende ganz nach ihrem Geschmack verbringen: Reality- TV gucken, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen, die unförmigen Schlafanzüge tragen, die er Liebestöter nannte, und Toast zum Abendbrot essen.
Das waren allerdings recht kümmerliche Vorteile, verglichen mit all dem, was sie vermisste. Das Kratzen seiner Bartstoppeln. Den wunderschönen Schwung seines schlanken Rückens in ihren zerwühlten Laken. Den Klaps auf ihren Hintern, den er ihr jedes Mal gab, wenn sie an ihm vorbeiging. Sie tat dann immer empört, aber heimlich freute sie sich darüber, und die neckische Rangelei, die darauf folgte, genoss sie noch viel mehr.
Der Wecker tanzte auf dem Bücherturm, der neben ihrem Bett stand. Orla streckte eine Hand aus und brachte ihn zum Schweigen, die Augen immer noch stur zusammengekniffen. Eingehüllt in ihren geblümten Flanellpyjama, konzentrierte sie sich darauf, den Tag noch von sich fernzuhalten und ihn daran zu hindern, in ihr gemütliches Nest zu dringen. Sie würde heute Morgen einfach auf die Dusche verzichten und dadurch zehn Minuten einsparen. Wenn sie Coco Pops statt eines gekochten Eis aß, würde sie weitere fünf Minuten gewinnen. Das machte fünfzehn gestohlene Minuten, in denen sie von ihrer bevorstehenden Reise träumen konnte.
Drei ganze Tage zusammen mit Sim in London. Sie würden in den großen roten Doppeldeckerbussen fahren, den Buckingham Palace besuchen und jede Menge Sex haben. Es würde wunderbar werden, und das wurde auch Zeit. Orla hatte die Auswirkungen der räumlichen Trennung auf ihre Beziehung unterschätzt. Sie hatten sich seit Neujahr nicht mehr gesehen … Orla schob die Erinnerung daran
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