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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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war Mittagszeit und die Bauern im Dorf. Beim Steinbruch legte sie ihr Fahrrad ins Gras, sprang über den Schlagbaum und kletterte zwischen den Brocken zur Abbruchkante hoch. Hier war längst alles überwachsen. Silberdisteln, hartes, hohes Gras, Hafer, Klatschmohn. Sogar ein paar wilde Apfelbäume gab es, von denen Luise sich zwei kleine, säuerliche Äpfel pflückte. Sie setzte sich in das Gras, zog die Knie hoch, lehnte den Rücken an die raue Kante eines Marmorbrockens und packte ihr Brot aus. Das hier war einer der geheimen Plätze, die sie hatte. Ein Lieblingsort, den sie mit niemandem geteilt hatte. Bisher. Sie musste mit Georg herkommen. Im Herbst, an einem Tag wie diesem. Von hier aus konnte man so weit übers Land sehen.
    Sie nahm sich das Buch auf die Knie. Sie hatte es schnell, aufs Geratewohl herausgegriffen, eine Gedichtsammlung. Sie blätterte und las hier und dort ein wenig, ließ das Buch immer wieder sinken und biss von ihrem Brot ab, bis sie auf ein paar Zeilen stieß, die sie ein zweites Mal las:

    Wo sind die Frühlingslieder, sag, wohin?
    Denk nicht an sie, du hast dein eigen Lied [ … ]
    der leichte Wind erstirbt, lebt auf,
    und Lämmer blöken zwischen Berg und Tal
    und in den Büschen zirpen Grillen, wenn
    in späten Gärten zitternd zart
    das Rötchen singt und letzte Schwalben
    zwitschernd in die Himmel schwärmen.

    Ja, dachte sie, so war dieser Tag. Sie hätte es nicht beschreiben können, sie konnte es nur fühlen. Aber Papa war so, der konnte so etwas. Der hätte diese Zeilen auch schreiben können.
    Sie sah auf die Uhr. Es war noch lange Zeit bis fünf Uhr, aber es hielt sie doch nicht mehr. Sie faltete das Butterbrotpapier zusammen, steckte es in die Tasche und warf den Apfelrest in den Steinbruch. Hier oben, zwischen den warmen Steinen, gab es viele Grillen. Buschheimchen, dachte Luise belustigt, pflückte einen Grashalm, klemmte ihn zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Dann stieg sie hinunter zu ihrem Fahrrad und machte sich auf den Weg.

    Sie sah das Auto schon, als sie noch nicht einmal aus dem Wald heraus war. Es stand schräg vor den halb geöffneten Scheunentoren, und sie erschrak so sehr, dass sie den Fahrradlenker verriss und beinahe gestürzt wäre. Sie konnte sich eben noch mit den Füßen auf beiden Seiten abfangen. Sie kannte das Auto. Es war dasselbe, das sie damals aus dem Pfarrhof hatte fahren sehen, in der Nacht, als sie Papa abgeholt hatten. Ihr Herz schlug auf einmal so schnell, dass sie es in der Brust spürte. Was sollte sie tun? Ihr erster Impuls war, einfach umzudrehen und so schnell wegzufahren wie nur möglich. Man hatte sie nicht gesehen. Anscheinend waren sie in der Scheune. Die Autotüren standen auch offen. Ihre Gedanken rasten. Dann schob sie ihr Fahrrad schnell ein Stück in den Wald, legte es hinter einen Busch und lief zwischen den Bäumen durch zur Hinterseite der Scheune. Der Wald reichte bis fast an die Mauern, und es gab dort eine kleine, unverglaste Fensteröffnung, die aber zu hoch für Luise war. Ein paar Bretter lagen an der Mauer, mit fliegenden Händen nahm sie eines und lehnte es schräg an, um einen Halt für die Füße zu haben, als sie sich am Fensterrand hochzog. Von innen hörte sie Stimmen. Vorsichtig lugte sie durch die Öffnung und versuchte gleichzeitig, sich zu beruhigen. Sie hatte nichts Verbotenes getan. Es war nicht verboten, sich ein Flugzeug zu bauen. Es war nicht … es hatte keinen Sinn. Sie hatte einfach Angst. Die Flügel der Maschine nahmen ihr etwas die Sicht, doch sie konnte einen Mann sehen, der zwischen Flugzeug und Werkbank stand und sich umschaute. Es musste aber noch zwei andere geben, denn sie hörte deren Stimmen. Dann tauchten auf der Leiter Stiefel auf, und der Gestapomann, der den General erschossen hatte, stieg vom Boden herunter.
    »Nichts weiter«, sagte er noch von der Leiter herab zu dem anderen an der Werkbank. Der aber hob eben die Plane über dem Hektografen an.
    »Schau an!«, sagte er befriedigt und rief seinen Kollegen: »Gerhard!«
    Luise konnte sehen, wie der Mann die Matrize von der Walze abzog, sich drehte und gegen das Licht hielt.
    »Volltreffer«, sagte der andere Mann, der hinzugetreten war.
    »Was?«, fragte eine dritte Stimme, und dann kam der Mesner unter dem Flugzeug hervor. Als er den Hektografen sah, sagte er überrascht: »Das ist doch …«, er unterbrach sich, ging zur Werkbank und hob das Gerät hoch. Dann rief er mit seiner dünnen, kratzigen Stimme: »Das ist der

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