Ein Lied über der Stadt
ins 18. Jahrhundert eigentlich der Friedhof gewesen war, bis er zu klein wurde und man den neuen Friedhof vor den Toren der Stadt angelegt hatte. Und als hundert Jahre später, um 1820, das alte Pfarrhaus bei der Stadtkirche in der letzten großen Feuersbrunst ausbrannte, hatte man das neue in den aufgelassenen Friedhof gebaut. Ein ungewöhnlich unbescheidenes Haus war es, sehr ungewöhnlich für die fränkisch kargen Protestanten. Aber vielleicht lag es an einem letzten Aufflammen von reichsstädtischem Stolz, mit dem die Stadt das Haus gebaut hatte, nachdem sie fünf Jahre zuvor den Bayern zugeschlagen worden war und ihre Bewohner plötzlich zu Untertanen geworden waren. Denn immerhin: Eine Reichsstadt war man gewesen, und auch, wenn das alles lange vorbei war, hatte man den Eindruck, als lebten die Bürger jetzt noch von der Erinnerung.
Das Haus war nun, nach hundert Jahren, nicht mehr pompös und nicht mehr herrschaftlich, sondern bequem und vielleicht ein klein wenig nachlässig geworden wie eine alte Dame, die nicht mehr ausgeht. Wenn Luise im Sommer an der warmen Hauswand lehnte und in den Garten sah, dann bröckelte sie manchmal geistesabwesend am Putz oder schob ihren Fingernagel sacht unter eine dünne altrosa Farbscholle, die dann von der Wand platzte und auf den Steinen der Terrasse wie Eis zersplitterte. Für sie war das Haus schon immer so gewesen, und sie verschwendete keinen Gedanken daran. Das Pfarrhaus war einfach ihr Haus. Sie war drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater die Pfarrstelle übernommen hatte und sie hierher gezogen waren. Von München wusste sie kaum noch etwas. Es gab ein paar Bilder in ihrem Kopf, die so schwarzweiß und verblasst waren wie die Fotografien aus dieser Zeit, und sie war sich nie ganz sicher, ob die vagen Eindrücke von der großen Wohnung mit den hohen Decken ihre eigenen, echten Erinnerungen waren oder sich nur aus den Erzählungen ihres Bruders und den Bildern im Familienalbum zusammensetzten.
Luana sang. Nie sang sie leise, so wie andere Menschen, die nur für sich sangen. Immer sang sie mit voller Stimme. Sie kann vielleicht nicht anders, dachte Luise, sie vergisst sich selbst beim Singen. Der Juninachmittag war so heiß, dass sogar die Katze, die sonst immer auf der Mauer in der Sonne lag, aufgestanden war, sich träge gestreckt hatte und dann die Mauer entlang in den Schatten unter der alten Wagenremise geschlichen war. Vom Holzschuppen kam mit der Sommerbrise der Geruch von altem Holz und auch der von Teer. Die Sonne schien so stark auf das Dach des Schuppens, dass die Teerpappe ganz weich wurde. Sommergerüche.
Manche Wörter aus Luanas Liedern kannte sie: amanhã zum Beispiel. Oder água . Und vor allem triste . Obwohl es »traurig« bedeutete, war es ein schönes Wort, weil es so weich ausgesprochen wurde; das s war so ein besonderes sch, wie sie es im Deutschen nicht hatten. Luise sah in den Himmel, hörte ihre schöne Schwägerin Luana singen, und plötzlich wusste sie, warum ihr diese Lieder so gut gefielen. An dieser Musik war alles so leicht, dass die Wörter und die Töne aufstiegen und sich irgendwann im Blau auflösten wie die kleinen Morgenwolken an einem Sommertag wie diesem. Sie lehnte an ihrem Walnussbaum und sah über die Dächer von Pfarrhaus und Scheune in den Himmel. Es gab nichts, was so perfekt war. Sie hatte in der Schule gelernt, dass die Menschen früher glaubten, der Himmel sei wirklich ein Zelt oder eine Schale, die über die Erde gestülpt war. Das hatte sie nie verstanden. Wenn man in den Himmel sah, dann wusste man doch: Er war so weit und so offen und vor allem so unendlich wie nichts anderes auf der ganzen Welt. Und weil Luise sich nach der Unendlichkeit sehnte, so sehr, dass es manchmal wehtat, wollte sie fliegen, seit sie das erste Flugzeug gesehen hatte.
Es war still geworden. Luana war ins Haus gegangen, um zu kochen. Neben dem Deckchair stand ihre Gitarre an das Tischchen gelehnt. Vom Kirchturm klang es weich herüber. Ein Schlag nur. Ob es Viertel nach fünf oder schon nach sechs war? Im Juni waren die Tage so wunderbar lang, dass man manchmal gar nicht merkte, wenn der Nachmittag zum Abend wurde. Es war so still, dass man denken konnte, man säße auf einer Insel des Schweigens, und alle Geräusche wie das Schlagen der Kirchturmuhr, das Pfeifen der Werkslokomotive aus der Brauerei oder das Geschrei der badenden Kinder unten am Fluss kämen nur wie kleine müde Wellen an den Strand dieser Insel geplätschert. Die Hitze und
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