Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
meine Morgengebete auf. Der Weg verlief in Serpentinen steil bergan.
Zu meiner Überraschung winkten mir Brigitte und Rainer von einem Felsvorsprung zu. Doch ich war mir sicher, die beiden, wie auch Constantin, der noch früher gestartet war, vor Roncesvalles, unserem Etappenziel, nicht mehr anzutreffen. Ich genoss den erfrischenden Morgen, zumal meine Kondition es recht gut mit mir meinte. Sie war so gut, dass ich mich bald in Gesellschaft von Brigitte und Rainer wiederfand.
Über dem Tal lag ein Wolkenschleier, der, mystisch anmutend, aus einer weit entfernten Welt zu erzählen schien. Hier und da lugte eine Bergspitze aus dem Nebel, als wollte sie sagen: »Hier schaut, ich bin auch noch da, vergesst mich nicht.« Rainer entdeckte in der Ferne zwei imposante Geier auf einem Fels, die ebenfalls die Aussicht ins Tal zu genießen schienen.
Aus den Nebelschwaden tauchte rechter Hand unerwartet eine private Herberge auf, die in unseren Reiseführern keinerlei Notiz gefunden hatte. Während wir auf der Terrasse Kaffee tranken, setzte sich wie von Geisterhand ein Plastikaschenbecher auf dem vom Tau der Nacht benässten Tisch in Bewegung. »Das erste Wunder auf dem Weg«, sagte ich mit weit geöffneten Augen, die meinem Erstaunen noch mehr Ausdruck verleihen sollten. Wir mussten herzhaft lachen. »Ich habe gelesen, dass auf dem Jakobsweg schon viele Wunder geschehen sind«, fügte ich hinzu. Na ja, die Sache mit dem Aschenbecher hatte einen nachvollziehbaren Grund. Zum Kaffee bot jeder von seinen Speisen an, was gleichfalls zur Minderung des Gewichts auf unseren Schultern beitrug. Teilen erleichtert, macht frei und glücklich, kam mir in den Sinn. Wir zahlten, schulterten unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg. Schließlich warteten noch mehr als zwanzig Kilometer Fußweg auf uns. Meine Wanderstöcke, mit denen ich mittlerweile den Rhythmus meiner Schritte bestimmte, machten mir immer mehr Freude. Das liebliche Grün der endlosen Weiden, von einer schroffen Natur umgeben, veranlasste Rainer immer wieder, seine Digitalkamera herauszukramen, um die Naturschönheiten dokumentarisch einzufangen. Ich hatte meine Kamera nicht mitgenommen, weil sie zu schwer war und eine neue, leichtere nicht in mein Budget passte. So machte ich meine Bilder mit dem Herzen. Der Weg wurde steiler. Mein Knie schmerzte und wurde dick. Ich machte mir ernsthafte Sorgen und haderte mit Gott. Wieso ausgerechnet jetzt. Ich wurde wütend und hätte es nicht überwunden, meine Pilgerschaft so früh abbrechen zu müssen. Glücklicherweise lenkten mich die Gespräche mit meinen Gefährten ab. Wildpferde, die sich offenkundig in ihrer malerischen Umgebung wohlfühlten, vermittelten ein Gefühl von Freiheit. Irgendwann befanden sich Rainer und Brigitte einige hundert Meter vor mir. Ein junger kräftiger Mann gesellte sich zu mir. »Where are you from?«, fragte ich ihn. »I'm from Brasil.«
»I’m from Germany«, antwortete ich und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass unsere Sprachkenntnisse für eine Konversation nicht ausreichten. An einer Quelle, an der sich noch andere Pilger erquickten, entdeckte ich Brigitte und Rainer. Wir staunten über die zahlreichen Nationalitäten - Amerika, Australien, Kanada, Italien, Brasilien, Norwegen, Frankreich, Spanien, Deutschland - ja, sie kamen aus der ganzen Welt nach Nordspanien zum Pilgern.
Mit dem Quellwasser kühlte ich mein Knie. Wie aus dem Nichts tauchten Melitta und Alexander auf. Wir mussten lachen, als Alexander uns großzügig von seinen Früchten anbot. Auch er hatte festgestellt, dass Rucksäcke sich leichter tragen lassen, wenn sich in ihnen nicht so viele Lebensmittel befinden. Wir lehnten dankend ab und zogen weiter.
Minuten später erblickten wir die erste Markierung mit Kilometerangabe. »Nur noch 765 km bis Santiago«, schmunzelte Rainer. Ein mannshoher Grenzstein kündigte Spaniens Provinz Navarra an. Immer wieder hielten wir Ausschau nach den gelben Pfeilen und der stilisierten Jakobsmuschel, die uns zuverlässig den Weg wiesen. Während einer weiteren Pause stießen Melitta und Alexander wieder zu uns. Es überraschte mich, dass die beiden so schnell unterwegs waren. Nachdem ich mein Knie mit den Schneeresten der Pyrenäen gekühlt hatte, setzten wir unseren Weg zu fünft fort.
Der Himmel, zum Greifen nah, tiefblau und nur von wenigen Wolken umgeben, schien uns willkommen zu heißen. Die südlichen Gipfel der Pyrenäen trugen noch ihr weißes Kleid. Es war ein fantastisches
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