Ein neues Paradies
Pflanzenstärke«, rief Erich, »wir haben gewonnen. In der Retorte ist Stärke entstanden.«
Nach einem Viertelstündchen saßen unsere Freunde in der Wohnung des Professors bei einem Rheinwein, der mit Recht eine gute Gabe Gottes genannt werden dürfte.
»Wir wollen hoffen«, begann der Professor, »daß die Chemie sich so bald nicht an diese reinen Genußmittel, an diese köstlichen Naturweine macht. Das erste Glas soll zunächst auf die künstliche Stärke, auf die Stärke aus Kohle und Wasser getrunken werden.« Mit diesen Worten erhob er sein Glas und leerte es bis auf den Grund.
»Wir haben doch gesiegt«, begann Erich. »Was in der Retorte ging, das wird auch in der Fabrik gehen. Ich sehe eine Zeit kommen, da sich neben unseren Kohlenbergwerken gewaltige Stärkefabriken erheben. Zu dieser Zeit wird man einen Teil der geförderten Kohle sofort verbrennen, um Elektrizität zu gewinnen. Die Kohlensäure, welche bei dieser Verbrennung naturnotwendig entsteht, wird aber nicht mehr nutzlos aus den Schornsteinen der Maschinenhäuser in die freie Luft entweichen. Man wird sie auffangen, von allen fremden Beimischungen säubern und den größten Teil davon sofort zur Herstellung von künstlichem Stärkemehl benutzen. So wird eine Zeit kommen, in welcher auch der Ärmste genügend Brot hat. Die Wissenschaft wird alle speisen, die heute noch an der Tafel des Lebens hungrig bleiben müssen.«
6
Die Erfindung von Professor Bunsen erregte allgemeines Aufsehen. Man hatte seine Verdienste um die Verwandlung des Zellulosestoffes in Stärke nicht vergessen, und der Staat stellte ihm eine große Summe zur Verfügung, um Versuche in größerem Maßstab zu unternehmen. Zuerst schien die Sache ziemlich aussichtslos, denn die Kunststärke war ungefähr dreimal so teuer, wie die natürlich gewachsene. Als die Versuche so weit gediehen waren, gelang es jedoch Erich, das Verfahren sehr viel günstiger zu gestalten. Bei der Darstellung der Stärke entwickelte sich ja reiner Sauerstoff. Auch dieser wurde jetzt sorgfältig aufgefangen. Dann verbrannte man die Kohle im reinen Sauerstoff zu Kohlensäure. Dabei entstand eine blendendhelle Weißglut, welche unmittelbar zur notwendigen Beleuchtung der Apparate benutzt wurde. Ferner war das Erzeugnis dieser Verbrennung bereits eine chemisch reine Kohlensäure. Endlich gelang es, die geplante Verbrennungswärme mit ganz geringfügigen Verlusten mit Hilfe thermoelektrischer Säulen in Elektrizität umzusetzen. Alle diese Verbesserungen zusammen ergaben staunenswerte Effekte. Man kam in die Lage, mit zehn Kilogramm verbrannter Kohle acht Kilogramm Stärke zu erzeugen. Als die Unternehmungen so weit gediehen waren, fanden sich schnell Kapitalisten, welche Mehlfabriken in großem Maßstab einrichteten und Lizenzen auf die Bunsenschen Patente nahmen. Professor Bunsen selbst war es, der immer wieder zur Mäßigung rief und empfahl, den Anbau von Nutzpflanzen nicht über der neuen Erfindung zu vernachlässigen.
Trotzdem zog die Landwirtschaft ihre Lehren aus der Erfindung. Der Anbau von eigentlichen Stärkepflanzen, insbesondere von Kartoffeln und Halmfrüchten, ging stark zurück. Dafür blieb dem landwirtschaftlichen Betrieb die Kultur von eiweißhaltigen Pflanzen, also besonders von Hülsenfrüchten, und es blieb ihr die Versorgung der Menschheit mit Fleisch, mit den Eiweißstoffen des tierischen Körpers. Wiederum nahm der Acker ein anderes Bild an. Der Sorge um die Stärke ledig, warfen sich viele Landwirte fast ausschließlich auf die Viehzucht. Wo man früher Kornfelder gesehen hatte, tummelten sich auf grüner Weide unübersehbare Rinderherden. So groß wurde der Viehbestand, daß die natürliche Weide ihn nicht mehr zu ernähren vermochte und daß die Ernährung dieser Herden stellenweise durch das künstliche Mehl erfolgen mußte. Der Reichtum des Landes wurde durch die Erfindung nicht wenig gehoben. Es bot sich ja Nahrung für die doppelte und dreifache Anzahl von Menschen. Wie es in solchen Fällen stets zu gehen pflegt, herrschte eine Zeit der Hochkonjunktur. Alle Gewerbe und Zünfte blühten und die Volkszahl stieg stärker, als lange Zeit zuvor.
Die Jahre gingen darüber ins Land. Während Professor Bunsen sich ganz der Ausgestaltung seiner Fabriken widmete, setzte Erich seine Studien fort und stand jetzt vor seiner Abschlußprüfung, welche ihm den Titel eines Doktor der Chemie bringen sollte. Bevor er sich dem Examen unterzog, sollte noch einmal ein freier Tag die alten Freunde
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