Ein neues Paradies
zunächst daran, die Zusammensetzung der Moleküle aller Stoffe zu studieren, die Moleküle in ihre Atome zu zerlegen. Es kam eine Blütezeit der analytischen, der auflösenden Chemie.
Nun ist es zweifellos sehr viel leichter, einem Soldaten die Glieder kaputtzuschießen, als sie wieder zu flicken und zu heilen. Ein gleiches erfuhr auch die Chemie des neunzehnten Jahrhunderts, als sie sich der Synthese, der Wiederzusammensetzung der Atome zum Molekül zuwandte. Erstens ist das Wiederzusammensetzen überhaupt nicht so leicht. Nicht jedes abgeschossene Bein heilt so ohne weiteres wieder an. Zweitens aber muß man auch wissen, wo die Glieder im richtigen Molekül, beim richtigen Soldaten gesessen haben. Wenn wir unserem Soldaten zum Beispiel die Arme unten und die Beine oben ansetzen, so kommt ein Individuum heraus, welches zwar auch zwei Beine, zwei Arme, einen Rumpf und einen Kopf hat, aber im ganzen Leben kein richtiger Soldat ist. Derartige Verwechslungen sind aber auch bei den Molekülen möglich.
Deshalb mußte die synthetische Chemie des neunzehnten Jahrhunderts sich genau informieren, wie das Molekül des Körpers konstruiert war, wie die einzelnen Atome im Molekül gruppiert waren, und so entstand die interessante Wissenschaft der Strukturchemie, welche unter Hofmann, Van’t Hoff, Kekulé und anderen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihre Triumphe feierten. Hofmann fand die verschiedenen Lagerungsmöglichkeiten, insbesondere der Kohlenstoffatome, in Reihen oder in Ringen und studierte die Eigenschaften solcher Körper auf das eingehendste. Er untersuchte die reihenförmigen Kohlenstoffe, welche in ihren einfachsten Verbindungen mit Wasserstoff die bekannten Fette, insbesondere die Fettstoffe des Petroleums ergeben, und daher auch wohl aliphatische Reihen genannt werden (vom griechischen Aliphos, das Fett). Er studierte ferner die ringförmigen Kohlenstoffkörper, auch wohl aromatische Kohlenstoffe genannt, die Benzole und Naphthaline und ihre zahlreichen Abkömmlinge. Seine Synthese feierte ihre höchsten Triumphe, als er dem schwarzen Steinkohlenteer die aromatischen Kohlenstoffringe entnahm und durch den Anbau passender Atomgruppen die leuchtende Schar der Anilinfarben schuf.
Die Synthese schritt weiter. Bereits zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts gelang es, den prachtvollen blauen Indigofarbstoff, dessen Molekül sich aus dreißig Atomen kunstvoll in zwei aromatischen Ringen aufbaut, aus deutschem Steinkohlenteer so billig in solchen Massen herzustellen, daß in Indien viele Quadratmeilen fruchtbaren Landes nicht mehr mit der Indigopflanze bebaut, sondern der nützlichen Kornkultur wiedergegeben wurden. Unablässig schritt die synthetische Chemie weiter, und bereits im Jahre 1906 wagte sich der deutsche Chemiker Professor Fischer auf das schwierige Gebiet der Eiweißstoffe. Bereits damals wußte man, daß die Aufgabe enorm schwierig sei. Während das Zucker- und Stärkemolekül nur aus einigen hundertunddreißig Atomen zusammengebaut ist, wußte man, daß die einfachsten Eiweiße ihr Molekül aus wenigstens tausend, wahrscheinlich zweitausend Atomen konstituieren. Man wußte auch aus der analytischen Chemie, daß im Eiweiß im allgemeinen sechzehn Prozent Stickstoff, zweiundfünfzig Prozent Kohlenstoff, sieben Prozent Wasserstoff, dreiundzwanzig Prozent Sauerstoff, zwei Prozent Schwefel und eventuell etwas Eisen und Phosphor enthalten waren. Über die Zusammensetzung dieser Moleküle aber war man völlig im dunkeln und natürlich boten sich bei tausend Atomen tausend Millionen Strukturmöglichkeiten.
Trotzdem war es Fischer bereits 1906 gelungen, Peptine und Peptone herzustellen, das heißt Stoffe, die jedenfalls an sich wieder als größere Bausteine in die Eiweißmoleküle eingesetzt werden mußten. Dann war aber die Eiweißsynthese nicht recht weitergekommen. Insbesondere war man noch weit davon entfernt, die einzelnen Eiweiße des Hühnereies, des Blutes und des Fleisches auf künstlichem Wege naturecht darzustellen. Die Synthese der Eiweißstoffe hatte unseren Freund Erich bereits während seiner Studienzeit sehr beschäftigt und es waren besonders die Eiweißstoffe des Hühnereies, welche er sich für seine Doktorarbeit vorgenommen hatte. Es war ihm in der Tat gelungen, ein einwandfreies Hühnereiweiß zu erzeugen und aufgrund seiner synthetischen Arbeiten eine Strukturformel zu geben, welche den kunstvollen Aufbau des Eiweißmoleküls aus zweitausendachtundvierzig Atomen
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