Ein Ort zum sterben
machte sich einen Vermerk. Sie mußte noch Charles’ Zeitung abbestellen. »Es gab keine eindeutigen Beweise gegen ihn. Dafür hat man bei Charles die Computerausdrucke über die Insidergeschäfte gefunden und damit eine eindeutige Verbindung zwischen Ihnen und Catherys Tante hergestellt. Dazu kommt der Brief, mit dem Sie Gaynor zu sich baten. Er hatte ihn in der Tasche. Es sieht nicht gut für Sie aus, Edith.«
»Helfen Sie mir! Soll ich den Rest meines Lebens hinter Gittern verbringen?«
Mallory lächelte, und Edith, die Hellseherin, sah nicht, was ihr Lächeln bedeutete, ja sie faßte bei diesem scheinbaren Zeichen menschlichen Mitgefühls sogar neuen Mut.
»Eins wollte ich Sie immer schon fragen, Edith. Wer gab dem Helfer den Befehl, das Glas einzuschlagen, als Max sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte? Das Glas, das ihm die Schlagader aufschnitt, so daß er verblutete? Ich habe den Mann in einem Altersheim auf dem Land gefunden. Er konnte sich noch ganz genau an jenen Abend erinnern, es war der Höhepunkt seines Lebens. Das Gesicht der Person, die den Befehl gab, hat er nicht erkannt, aber es sei eine Frau gewesen, sagt er, und es war auch eine Frau, die ihm das Feuerwehrbeil in die Hand drückte.«
Edith sagte nichts, aber für Mallory war ihr Schweigen beredt genug.
»Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt, Edith, aber manchmal eben doch einen angemessenen Ausgleich.«
»Sie müssen mir helfen. Sie sind doch eine zivilisierte Person.«
»Wer? Ich?«
Ein Karton mit Charles’ Zeitschriften stand neben ihr auf dem Gehsteig. Sie hob schon die Hand, um ein Taxi heranzuwinken, als im Licht der Straßenbeleuchtung ihr Blick auf ein vertrautes Gesicht fiel.
Sie steckte ihr Geld in den Zeitungskasten, entnahm das Blatt und sah Maximilian Candle in die Augen. Es war ein Foto von Charles’ Onkel in seiner besten Zeit. In dem Artikel war von einer längst überfälligen Ehrung des Meisters die Rede. Berühmte Zauberkünstler aus der ganzen Welt wollten in einer Wohltätigkeitsveranstaltung noch einmal seine alten Nummern auf die Bühne bringen. Max war wieder in den Schlagzeilen. Als sie umblätterte, fand sie ein größeres Foto mit einem Artikel über Max* eindrucksvolle Beerdigung vor dreißig Jahren. Im Vordergrund entdeckte sie einen kleinen Jungen mit langer Nase. Charles.
Den kurzen Artikel über Markowitz’ höchst unspektakuläre, unmagische Beerdigung mit einem Foto der äußerlich ungerührten Mallory hatte die Redaktion seinerzeit auf Seite fünfzehn verbannt.
Von all den Tränen, die sie in letzter Zeit für Coffey vergossen hatte, der sie zu gut kannte, um sich von ihr täuschen zu lassen, von all den Tränen, die sie für den leichtgläubigeren Staatsanwalt geweint hatte, der sie überhaupt nicht kannte, war keine einzige echt gewesen. Auf Markowitz’ Beerdigung dagegen hatte sie nicht geweint. Aber sie hatte nichts von dem gehört, was am Grab gesprochen wurde, wo der Rabbi zum Himmel aufsah, in dem sich der Gott der Sonntagsschulen verkrochen hatte wie ein guter New Yorker, der mit all dem nichts zu tun haben will.
Sie hatte weiter die Rolle der Abgebrühten gespielt, für die eine Leiche eine Leiche ist und die mit dem Höhenflug der Seelen nichts am Hut hat.
Leb wohl, Markowitz.
Sie faltete die Zeitung zusammen und sah sich nach einem Taxi um. Ganz in der Nähe jaulte die Alarmanlage eines Autos los. Ein Taubenschwarm stieg mit rauschendem Flügelschlag aus einem Baum ins Licht der Straßenlaternen, stand einen Moment über Mallory, die mit staunenden Augen zu den Vögeln aufsah, und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.
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