Ein Ort zum sterben
Der Hund gehorchte ihrem Ruf. Sein Fell zuckte. Er näherte sich langsam, mit leichten Schritten, auf hohen, schlanken Dobermannbeinen. Ihre Stimme zog ihn durch Zimmer und Diele bis in die Küche. Leise tönte das Klippklapp seiner Krallen auf dem Linoleum. Und dann stand er mit angespannten Muskeln, gleichsam soldatisch stramm, vor seiner Herrin.
Wie nässende Wunden wirkten die braunen Hundeaugen in dem schmalen Kopf. Das dunkle Fell verbarg alte Narben. Dank seiner Jugend und seiner guten Konstitution hatte er vieles überlebt. Jetzt aber war er nicht mehr jung.
Die Frau saß im Sessel, und der Hund wußte, daß es eine Weile dauern konnte, bis sie sich wieder regte, er witterte es, noch ehe er sah, daß ihre Augen geweitet waren und ihr Blick ins Leere ging.
Ein leises Winseln kam aus der Hundekehle. Er lief vor dem Sessel auf und ab, spürte, daß die Frau blind für ihre Umgebung, taub für seine Angst war.
Wie lange würde es dauern, bis seine Herrin wieder zu sich kam? Sie verdrehte die Augen wie in Trance. Nicht mehr lange. Der Hund bellte. Nichts. Kein Blinzeln, kein Reflex. Der Hund umkreiste den Sessel und stieß einen fast menschlich klingenden angstvollen Klagelaut aus. Er stieß mit der Schnauze die Hand an, die ihr schlaff in den Schoß fiel.
Er jaulte.
Bald.
Der Hund verlor die Fassung. Die unter Schmerzen erlernte Zucht, das gewohnte Ritual – all das war vergessen. Er ging rückwärts aus der Küche hinaus, ohne die furchtgeweiteten Augen von der Frau zu lassen, dann drehte er sich um, stürmte ins nächste Zimmer, durch die offene Tür, den langen Korridor entlang, mit den Pfoten nur leicht den Boden berührend, ein Bild vollkommener Harmonie. Die Muskeln spannten und streckten sich, die Augen glänzten. Ein Sprung, der Körper hob sich in die Luft, durchstieß scheppernd die Scheibe des Fensters im fünften Stock.
Schock und Grauen dieses Fluges ohne Flügel brachten sein Herz zum Stillstand. Er war schon tot, ehe sein Körper auf dem Gehsteig zerschellte.
Strähniges Haar fiel dem Jungen über ein Auge, das andere glänzte wie im Fieber. Das schmutziggraue T-Shirt hatte gelblichbraune Schweißflecken unter den Armen. Durch die verwaschenen, abgewetzten Jeans hindurch sah man knochige Knie, als er erneut an den Verschlag des Pfandleihers herantrat.
Der Alte, durch Maschendraht und Glas gesichert, hatte nur eine Sorge: daß sein Blick Schock und Schmerz verraten könnte. Unter gesenkten Lidern sah er sich noch einmal an, was der Junge ihm gebracht hatte.
Vom Polizeirevier bis zu seinem Laden waren es nur ein paar Minuten. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Wo steckte Kathy? War es richtig gewesen, sie zu verständigen? Mit zitternder Hand fuhr der Alte sich übers Gesicht. Was mochte der Junge sich denken, wenn er sein Zittern, seine Tränen sah?
»Was machste so lange rum, Alter?« fragte der Junge. »Gold is Gold.«
Nicht in diesem Fall.
In der Taschenuhr stand der Name von Louis Markowitz’ Großvater. Und aus den Initialen auf der Innenseite des schweren Goldreifs ersah der Alte, daß dies der Trauring war, den Helen einst ihrem Louis an den Finger gesteckt hatte. Er war selbst bei der Hochzeit gewesen. Und hatte zwanzig Jahre später mit Louis und Kathy an Helens Grab gestanden. Uhr und Ring bedeuteten für Louis mehr als Gold. Freiwillig hätte er sich von beidem nie getrennt.
Der Junge drückte sich noch einen Augenblick vor dem Verschlag herum, dann lief er quer durchs Zimmer, machte einen Satz, hob vom Boden ab. Wie mager er war, nur Haut und Knochen, getrieben von manischer Energie, schweißüberströmt der hagere Körper, fiebernd das Hirn, nach Geld gierend, um sich den Zauberstoff in die Vene zu pumpen und davonzufliegen.
Ein leises Klopfen an der Scheibe. Kathy Mallory war da. Der Alte betätigte den Türöffner. Langsam pirschte sie sich an. Lange Hosen an den schlanken Beinen, schwarzer Blazer über T-Shirt und Revolver. Alles, was ihm an Komplimenten einfiel, hatte mit hartem, edlem Material zu tun: die Augen kalte grüne Edelsteine in einer Elfenbeinfassung, das Haar eine Aureole aus Gold.
Einen Lidschlag später hatte sie sich den Jungen geschnappt. Es war, als sei sie aus der Lichtbahn am Fenster verschwunden und wie durch Zauberhand hinter ihm, am anderen Ende des Zimmers, wieder aufgetaucht. Ihre Lippen öffneten sich, zwischen den Zähnen kam die Zungenspitze zum Vorschein. Vielleicht lag es an seinen alten Augen, vielleicht war es auch Einbildung
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