Ein paar Tage Licht
hatte.
Zehn Tote im August in Bab el Oued.
Zweiundvierzig in Alger Centre im Januar.
Neunzehn im vergangenen Jahr in Les Eucalyptus drüben beim Flughafen.
Sein Vater flüsterte Zahlen und sagte: Man darf das alles nie vergessen!
Also merkte Djamel sich die Zahlen.
Zweiundsiebzig Leichen auf der Autobahn bei Lakhdaria, eine Stunde von hier. Vierzehn in Blida hinter den Hügeln. Dann vierundfünfzig im November, sechzig im Dezember. Aber Blida, hatte sein Vater gesagt, das waren nicht nur die Bärtigen. Die Ersten in Blida, das haben andere getan.
Andere?
Soldaten. Aber sprich nicht darüber!
Zwanzig Tote in Cherarda, später noch einmal einundvierzig. Auch darüber sollte er nicht sprechen.
Die Freunde blieben stehen, verabschiedeten sich.
»Beim nächsten Mal machen wir sie fertig«, sagte Djamel.
Aziz nickte und klopfte ihm auf die Schulter und eilte mit den anderen hügelwärts davon.
Allein ging er weiter. Noch immer bewegten sich die Autos nicht. Einige Fahrer waren ausgestiegen und sprachen miteinander. Manche hatten einen Gebetsteppich auf den Gehweg gelegt und verrichteten das Nachtgebet.
Ab der Rue Hamoua sei der Boulevard gesperrt, sagte ein alter Mann.
»Die Abdelaziz Hamoua?«, fragte Djamel.
Obwohl die Beine schmerzten, begann er zu rennen. Dort wohnte er, in der Rue Abdelaziz Hamoua.
Kurz darauf sah er die Sperren, Soldaten blockierten den Boulevard. Kein Unfall, kein Mitglied von le pouvoir . Aus der Hamoua kam ein Konvoi von Militärfahrzeugen – Laster, Jeeps, Transportpanzer. Im Schritttempo bogen sie nach Süden in den Boulevard ein und fuhren an Djamel vorbei in Richtung Bab el Oued. Die Läufe von Gewehren und Maschinenpistolen glitten über ihn, er spürte feindselige Blicke, die vielleicht für einen Moment in ihrer Wachsamkeit nachließen, als sie ihn sahen, den Jungen mit den dünnen Beinen im gefälschten Milan-Dress von George Weah.
An der Kreuzung wartete er, bis das letzte Militärfahrzeug die Hamoua verlassen hatte. Die Soldaten auf der Straße stiegen in ihre Jeeps und folgten dem Konvoi. Die Fahrer stiegen in ihre Autos und fuhren weiter.
In der Rue Abdelaziz Hamoua war kein Mensch zu sehen. Die Fensterläden der Häuser waren geschlossen wie immer nach Einbruch der Dunkelheit, doch manche Eingangstüren standen offen. Obwohl drinnen Licht war, drang kein Laut an Djamels Ohr.
Er ging an der Moschee vorbei, auch dort war niemand zu sehen. Vor dem einstöckigen ockerfarbenen Eckhaus mit den hohen Fenstern, in dem er mit seinem Vater und seiner Mutter und deren Eltern wohnte, blieb er stehen.
Die Fensterläden zu, die Tür geöffnet, das Flurlicht war eingeschaltet.
Auf einer der beiden Steinstufen funkelte etwas im Schein der Lampe – die silberne Brille seines Vaters. Vorsichtig hob er sie auf. Eines der Gläser hatte einen Sprung, ansonsten war sie unversehrt.
Er fand seine Mutter und deren Eltern im Wohnzimmer. Eng aneinandergedrängt saßen sie auf dem Sofa, ihre Blicke folgten ihm, während er vor sie trat. Die Mutter keuchte, als wäre sie gerannt, und doch hatte Djamel den Eindruck, dass die drei schon seit Ewigkeiten hier saßen und Schreckliches mitangesehen hatten, ihre Augen sagten ihm das, die ihn beobachteten wie die Augen der Toten auf den Tribünen des Stadions von Bologhine, Kriege und Blut hatten die gesehen und Mörder und Ermordete.
Ein Stuhl war umgefallen, der Teppich verrutscht. Der Fernseher lief. Vor einem der Fenster lag umgedreht ein felliger Hausschuh seines Vaters, den zweiten entdeckte er nicht.
Bevor die auf dem Sofa die Sprache wiederfinden würden, verließ Djamel das Zimmer und das Haus.
Als er einen schwachen Ruf hörte, hielt er inne. Die Mutter war ihm zur Tür gefolgt, dort stand sie nun, das Haar ohne Kopftuch lang und wirr. Sie duckte sich, als fürchtete sie, in ihrer Nacktheit gesehen zu werden, und flüsterte Dinge, die er nicht hören wollte. Die Soldaten hatten seinen Vater mitgenommen und gesagt, es sei nur für einen Tag oder zwei, falls sich nichts Schwerwiegendes ergebe, man wolle mit ihm über ernste Belange der nationalen Sicherheit sprechen, doch in einem Tag oder zwei werde er zurückkehren, man werde kaum länger mit ihm sprechen, im Gefängnis von Serkadji, auch Barberousse genannt, oberhalb der Kasbah … Kein Grund also, flüsterte die Mutter, sich Sorgen zu machen.
»Komm wieder rein, ja? Kommst du? Komm.«
»Aber er braucht seine Brille.«
Er drehte sich um und machte sich auf den Weg, es war weit
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