Ein Pony auf großer Wanderung
Pferdedecken vom Wäscheplatz. Bettina hielt ihm die Tür auf.
„Wußte gar nicht, daß dein Zottel jetzt auch in die Schule geht, Bille“, brummte er und warf ächzend den Stapel Decken auf die Futterkiste.
„Zottel? Wieso?“
„Er macht gerade seine Hausaufgaben.“
„Hausaufgaben ?“
„Na ja, er liest da irgendwas. Mit der Nase auf’m Papier.“
Noch während er sprach, liefen Nico und Bettina beunruhigt nach draußen. Ein Schreckensschrei alarmierte Bille aufs höchste.
„Bille! Dein schöner Brief! Er muß dir aus der Tasche gefallen sein; Zottel hat ihn total zerfetzt!“
Bille stürzte zur Stalltür und starrte auf Zottel, der sich in seiner Arbeit nicht stören ließ. Mit einem Huf hielt er den Briefbogen am Boden fest, während er mit den Zähnen Stückchen für Stückchen ab riß.
„O nein! Das darf doch nicht wahr sein! Zottel, gib sofort den Brief her!“
„Viel ist nicht mehr übrig.“
Bettina half der Freundin, die Schnipsel unter Zottels Huf hervorzuziehen.
„Kannst eine Art Puzzle draus machen und in einem Umschlag an Franca schicken. Mit Zottels Namen als Absender“, meinte Nico. „Da hat sie wenigstens was zu lachen.“
„Gut, aber einen neuen Brief schreiben muß ich ihr trotzdem“, seufzte Bille.
„Wir helfen dir dabei. Jeder schreibt einen Absatz, dann geht’s ganz schnell.“
„Nun ärgere dich nicht, Bille!“ Florian legte der Freundin kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. „Zottel ist nun mal eitel. Wahrscheinlich hat ihm sein Bild nicht gefallen.“
Ein Kronprinz wird erwachsen
Das schöne Herbstwetter hielt an. Wenn Bille frühmorgens von Wedenbruck aus, wo sie wohnte, nach Groß- Willmsdorf hinüberritt und der Nebel in dichten Schleiern über der
Landschaft lag, fühlte sie sich wie in eine Märchenwelt versetzt. Blitzende Wassertropfen schmückten Sträucher und Zäune, Spinnweben sahen aus wie mit Perlen besetzt, lautlos segelte das herbstbunte Laub von den Bäumen. In solchen Augenblicken durchflutete Bille ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Dankbarkeit, hier leben zu dürfen, von allen Plätzen auf der Welt gerade hier, in dieser Landschaft, mit diesen Menschen, Mutsch und Onkel Paul, ihrem Stiefvater, die sich jetzt auf den Weg zur Arbeit machten, zum Sparmarkt in Leesten drüben. Simon, der sie liebte, so wie sie ihn, und der jetzt drüben in Peershof mit der Morgenarbeit im Stall begann. Daddy Tiedjen , der Besitzer von Groß- Willmsdorf , der für sie wie ein zweiter Vater war. Und all die anderen. Und dann die Pferde! Zottel und der schöne Rappe Black Arrow, die ihr gehörten. Die Schulpferde, die Stuten und Fohlen.
Unvorstellbar, nicht das morgendliche Getschilp der Spatzen, das Wiehern und Schnauben zu hören, das Klappern der Tränkeimer! Und diesen unvergleichen Geruch in der Nase zu haben, nach dampfender Erde, Wiesen und frischem Dung! Wirklich, sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.
Wenn sie dann das große alte Gutshaus betrat, durch die hohe Halle zu ihrem Klassenzimmer hinüberging, mit den „Internen“ zusammentraf, die aus dem Speisesaal vom Frühstück kamen, dann war auch dies wie ein Nachhausekommen . In der kurzen Zeit — noch keine fünfzehn Monate waren es — , in der das Reiterinternat Groß- Willmsdorf bestand, waren sie zu einer Familie geworden, pferdebesessene Schüler und pferdebegeisterte Lehrer. Ihre kühnsten Träume waren in Erfüllung gegangen. Daß sie diese Träume Tag für Tag mit harter Arbeit bezahlte, darüber dachte Bille nicht nach. Oder doch ganz selten nur, wenn die Arbeit in der Schule, im Stall und auf der Reitbahn ihr über den Kopf zu wachsen drohte, die Glieder schmerzten und der Kopf hohl und leer schien vor Müdigkeit.
Aber jetzt war die Turniersaison so gut wie vorüber. Statt des harten Trainings gab es lange Ausritte durch die herbstliche Landschaft. Die Sonne schien, und in den Gärten leuchteten Rosen und Herbstastern um die Wette. Die Apfelbäume waren schwer von Früchten. Die Zeit der Hubertusjagden stand vor der Tür, und bald gab es Herbstferien.
Als Bille und Simon an diesem Tag von ihrem Ausritt auf den Hof zurückkehrten, lief ihnen Joy über den Weg, die seit einiger Zeit als Assistentin des Gutsverwalters in Groß- Willmsdorf arbeitete. Sie kam aus dem Fohlenstall.
„Habt ihr schon gehört? Morgen ist es soweit!“
„Was ist soweit?“
Bille und Simon fragten wie aus einem Munde. Dabei wußten beide nur allzugut , worum es ging.
„Die Absetzer . Morgen ziehen
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