Cheffe versenken (German Edition)
Weckruf
Guten Morgen, Gütersloh. Das war Johnny Cash mit Blue Train . Ich liebe diesen Song. Apropos Train. Kommen wir zu einem ernsten Thema. Vor zwei Wochen wurde der 32-jährige Paul Wiltmann in seinem Porsche von einer TWE-Bahn erfasst und getötet.
Warum der Pressesprecher des Bellersen Verlags mit seinem Wagen mitten auf den Schienen stand, dazu mit ausgeschaltetem Motor, und vor allem: wieso er nicht einfach ausgestiegen ist – das sind nur einige der Fragen, die sich die Ermittler und viele von Ihnen, meine lieben Hörer, stellen. Soeben hat die Polizei für morgen Abend eine Pressekonferenz zum Tode Wiltmanns angekündigt.
Wir hoffen auf erste Informationen, denn bisher waren weder Wiltmanns Angehörige noch sein Arbeitgeber, Bernold Bellersen, zu einer Stellungnahme bereit.
Was immer in dieser verregneten Aprilnacht am Bahnübergang Eiserstraße im Verler Industriegebiet passierte – wir halten Sie auf dem Laufenden. Simon Heitkämper für Radio Antenne 102,5.
Simon Heitkämper? Mit einem leichten Würgereiz schlug ich die Augen auf. Meine rechte Hand klatschte dumpf auf die andere Bettseite. Ein Glück! Es war nur Simons verzerrte Stimme, die aus dem Radiowecker zu mir herüberwaberte. Ausgerechnet dieser Hohlkopf hatte es in meinen Lieblingssender geschafft.
Konnte ein Tag schlechter starten als mit dem Gesums des Ex? Noch dazu mit einer Meldung über den Mann, bei dem ich in wenigen Stunden zu einem unfreiwilligen Vorstellungsgespräch angemeldet war? Bernold Bellersen.
6 Uhr 15 und der Tag war gelaufen!
Dabei hatte mein Leben hoffnungsfroh angefangen: In den ersten neunundzwanzig Jahren gab es für mich, Trixi, eigentlich Beatrix Gellert, keinen Grund zur Beanstandung.
Solange meine Eltern mich nicht mit anderen Kindern verglichen, war ich ein ganz normales Mädchen: immer schon ein bisschen zu groß geraten, aber dafür umso flotter unterwegs auf meinen langen Stelzenbeinen, die blonden Haare im Fahrtwind.
Während sich meine Schwester Betty, sechs Jahre älter und einen Kopf kleiner als ich, alle Annehmlichkeiten des Lebens mühsam erkämpfen musste, fielen mir die wichtigen, aber auch die unwichtigen Dinge in den Schoß.
Freunde? Jede Menge und von allen Sorten.
Schule? Mit links, ohne Aufwand, aber mit passablem Ergebnis.
Hobbys? Rasant, sportlich und am liebsten jeden Tag ein neues.
Liebe? Abwechslungsreich, fallweise experimentell und nie was Ernstes. Am allerwenigsten mit Simon Heitkämper, der unseren zweistündigen amourösen Ausrutscher leider als große Offenbarung missverstanden hatte.
Berufsausbildung? Es geht doch nichts über vielfältige Erfahrungen. Leider sitze ich nicht gern lange an einem Platz. Das heißt, nicht auf demselben Stuhl und schon gar nicht im selben Zimmer. Nach einer Stunde reglosen Verweilens werde ich zappelig. Muss ich noch länger ausharren, gesellt sich zu zuckenden Beinen ein unangenehmes Blähgefühl. Spätestens da hört der Arbeitsspaß auf.
Aus diesem Grund entschied ich mich nach der Schule ahnungslos für ein Journalistikstudium. Ich wollte ständig wechselnde Seminare und Vorlesungen besuchen, weltgewandten Professoren zuhören und dabei unendlich spannende Themen erforschen. Nebenher verdiente ich ein wenig Geld. Hier ein bisschen Cocktails shaken, dort kassieren. Alles kein Problem, solange meine Eltern bereitwillig den größten Teil meines Lebens finanzierten.
Während des Studiums zog ich zu meiner Schwester, die sich nach einem Rechenfehler im Zykluskalender seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr der Erziehung ihrer Tochter Rahel widmete. Der Vater des Kindes nahm bereits kurz nach dem Rechenfehler all seinen Mut zusammen und brach spontan auf, die Welt zu erkunden. Seitdem schlug Betty sich wacker durchs Mutterleben, chronisch übermüdet, mit Augenringen wie Traktorreifen, aber meistens gut gelaunt. Ihren Lebensunterhalt sicherte sie sich als Krankenschwester im Städtischen Klinikum, während Rahel sich von einem aufgeweckten Kind zu einem eigenwilligen Teenager entwickelte.
Mein Studium stellte sich, objektiv betrachtet, als zähes Absitzen von Unterrichtseinheiten heraus und die Professoren als freundliche, aber selbstzufriedene Herrschaften mit dem Motivationsvermögen einer Bahnansage. Meine Nebenjobs waren deutlich interessanter. So beschloss ich nach sieben Semestern, der Akademikerlaufbahn ein Ende zu setzen und mich allzeit flexibel den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
Das Schwesterngespann Trixi und Betty
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