Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Pyrenäenbuch

Ein Pyrenäenbuch

Titel: Ein Pyrenäenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
Vom Netzwerk:
Löcher in die Stille bau-haut... Ich muß wohl ein
schlechter Mensch sein. Ich mag keine bellenden Hunde. Aber man sollte nicht
den Hunden einen überziehen, sondern ihren Besitzern, die sie anbinden.
    Lärm sackt tief ins Gehirn, das
saugt ihn auf wie Löschpapier das Wasser. Zum Schluß ist man ganz durchtränkt
mit Lärm, niedergeknüppelt und unfähig, zu denken.
    Nebenan brabbeln zwei Stimmen:
eine Engländerin spricht und spricht und hört nie wieder auf. Wie kommt es, daß
ich sie nicht mag? Daß der Satz: «Ich bin fest überzeugt: ein fluchender
Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für die Gottheit als ein betender
Engländer» mir aus dem Herzen geholt ist, und daß ich derselben Meinung wie
sein Verfasser über den tiefen Grund dieser Abneigung bin: «Ich gestehe es, ich
bin nicht ganz unparteiisch, wenn ich von Engländern rede, und mein Mißurtheil,
meine Abneigung, wurzelt vielleicht in den Besorgnissen ob der eignen
Wohlfahrt... Und jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine
merkantilischen Interessen unterhegen — es giebt in der ganzen Schöpfung kein
so hartherziges Geschöpf, wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken gerathen,
dem seine Kunden abtrünnig werden und dessen Waarenlager keinen Absatz mehr
findet.» Was ist das für eine Orthographie? Das ist die deutsche Orthographie
aus dem Jahre 1842, die man auch anwendete, wenn man in Paris saß. Nein, nicht
Börne. Der andre. Der andre.
    Am nächsten Morgen kletterte
ich noch ein bißchen umher.
    An einer Mauer klebt ein altes
Wahlplakat, immer, in jedem Dorf, unweigerlich.
    «Mes chers
concitoyens!» Und nun geht’s los. Bis
zum heutigen Tag hat noch nie ein Deputierter die Interessen des Distrikts
wahrgenommen — das muß anders werden. «Agriculteurs! Qu’a-t-on fait pour vous? Rien.
Petits propriétaires! Qu’a-t-on
fait pour vous?» Das frage ich mich auch. Aber der Neue wird‘s ihnen schon
besorgen: er ist für Ordnung, Privateigentum, den Schutz der wirtschaftlich
Schwachen, die Besteuerung der andern — es ist ganz großartig. Unterschrift: «Jean
Lenoir, Ancien Député, Maire de Capotanville, Président de la Ligue pour
l’Ordre et la Liberté.» Trommelwirbel.
Schade, daß das Plakat der vorigen Wahl nicht noch dahängt. Demokratie in der
Praxis ist eine lustige Sache.
    Das mit den Wahlplakaten ist
übrigens halb so schlimm; die Wahlbeteiligung war nicht schlecht, aber bei den
Bauern auch nicht übermäßig stark.
    Immerhin ist hier in der
Provinz der große Umschwung in der parlamentarischen Politik des Landes
vorbereitet worden. Was nachher freilich die Parlamentarier damit anfangen…
    In fast allen Pyrenäenstädten
herrscht eine weiche, geruhsame Luft, besonders in den hübschesten unter ihnen,
die am Anfang der Ebene liegen — freundlich geht es da zu. ‹T’en fais pas!› ist
ein schöner Grundsatz. Bring dich nicht um! Nun, hier bringt sich keiner um.
    Ab und zu trifft man auf
Fabriken, aber das ist, wenn man von gewichtigen Ausnahmen absieht, nicht gar
so erheblich. Die Bedürfnisse der bürgerlichen und bäuerlichen Provinzfranzosen
sind nicht groß, viel wichtiger ist ihnen: zu leben. Sie wissen alle, wozu sie
da sind, hienieden. Und es ist gar kein Zweifel, daß sie mit solchen Gaben mehr
vom Leben haben als jene, die sich abrudern. Alle diese Städtchen, Oloron und
Mauléon und Tarbes und St.-Girons und Gaudens und Foix und Perpignan erinnern
mich immer an die Sonntagnachmittage zu Stettin, an denen mein Vater auf dem
Balkon saß, eine Pfeife rauchte und auf die Sonntagsausflügler sah, die
furchtbar eilig auf den Paradeberg wallen mußten. Er sprach das Wort, das ich
von ihm geerbt habe, mehr vielleicht, als gut ist. «Wie sie rennen! Wie sie
rennen!» Die Leute in der französischen Provinz rennen nicht. Sie leben.
    Man darf nicht übertreiben. Bis
zur reinen Idylle geht’s doch nicht immer. Wenn ich so bei dem entzückenden
Francis Jammes — etwa im ‹Monsieur le Curé d’Ozéron› — zu lesen bekomme,
wie heiter, wie blumig, wie lächelnd-sonnig es in diesen Gefilden zugeht, so
überkommt mich ein leiser Zweifel. Ich weiß doch nicht recht... Der ‹Hasenroman› von Jammes ist eine reizende Idylle, die man gern genießt, im schönen ‹Dichter
Ländlich›, wie die deutsche Übersetzung glücklich genannt ist, geht’s noch
an — aber dieser gute Curé: das ist ein bißchen viel. Ja, gewiß, auch bei
Jammes gibt es wohl schon Zinsen und Kapital und Banken und Ausschweifungen

Weitere Kostenlose Bücher