Ein Regenschirm furr diesen Tag
Stockwerks eines einfältigen Mietshauses. Ich mache Susanne auf den Jungen und seine Höhle aufmerksam. Ich bin nicht sicher, ob sie bemerkt, daß der Junge meine Absichten rettet. Von Engeln verstehe ich nichts, ich glaube auch nicht an sie, trotzdem halte ich es für möglich, daß der Junge nur meinetwegen zwischen Himmel und Erde herumschwirrt. Er erlaubt mir, den Verwirrungen von Arbeit und Zeit zu entkommen, er macht mich entrinnbar inmitten eines unentrinnbaren Geschehens. Eben konstruiert er das Dach seiner Höhle. Er befestigt ein weiteres Wäscheseil zwischen dem Balkongeländer und einer halbhohen Rolladenvorrichtung an der Wandseite des Balkons. Er spannt das Seil an, dann wirft er die zuletzt herbeigeschaffte Wolldecke darüber und befestigt sie an beiden Enden mit Wäscheklammern. Der Höhleneingang öffnet sich zur Balkontür hin. Hinter der Balkontür liegt vermutlich die Küche, die unbeleuchtet ist. Alle Fenster der Wohnung sind ohne Licht. Wahrscheinlich tummeln sich auch die Eltern des Jungen auf dem Marktplatz. Die Höhle ist so angelegt, daß längs des Geländers zwei Wolldecken aneinanderstoßen. Der Junge schiebt dann und wann eine Hand zwischen die Deckenränder und öffnet sie zu einem Sehschlitz. Die Augenblicke, wenn zwischen den Wolldecken die weiße Hand des Kindes erscheint und dahinter, von hier unten kaum erkennbar, sein regloses Gesicht, sind ganz unbeschreiblich und ein Eigentum der Engel, wenn es Engel gibt. Der Junge verschwindet für eine Weile im Innenraum der Wohnung. Die Leute im Open-Air-Kino verdrehen immer wieder die Köpfe zu anderen Schauplätzen, wo vielleicht eine größere oder härtere Erregung herkommen könnte. Der Chef des Kulturamtes steigt von der Lichtanlage herunter. Kurz darauf flammen die ersten Lichtkegel den Himmel hinauf und rotieren am Firmament. Die WAVES hämmern einen Rhythmus über den Platz. Der Junge erscheint wieder auf dem Balkon. Er trägt ein Proviantpaket und eine Flasche Mineralwasser in seine Höhle. Offenbar richtet er sich für einen längeren Aufenthalt ein. Susanne und ich streifen noch ein wenig umher, dann verlassen wir das Sommerfest. Susanne ist müde und leicht betrunken. Sie will ins Bett und sofort schlafen. Ich bringe sie nach Hause und kehre dann noch einmal auf den Marktplatz zurück. Ich will nur noch eine Weile die Höhle des Jungen betrachten. Einmal öffnet er den Sehschlitz eine Handbreit und setzt an zu einem längeren Rundblick auf die wogenden und lärmenden Massen. Es ist ein mißtrauischer, geretteter Blick, der mein eigener sein könnte. Nach etwas mehr als einer Stunde gehe auch ich nach Hause und lege mich schlafen. Am Mittag des folgenden Tages mache ich mich auf den Weg zum Generalanzeiger und bringe Messerschmidt einen luftigen Artikel vorbei. Ich gehe über den Marktplatz, weil ich nachsehen will, was aus der Höhle geworden ist. Sie ist noch da. Ich schaue eine Weile hoch, der Junge läßt sich nicht blicken, vermutlich ist er in der Schule. Nach ein paar Minuten betritt eine Frau, wahrscheinlich die Mutter, den Balkon. Sie holt einen Plastikeimer in die Wohnung und bewegt sich dabei so, daß sie die Höhle nicht beschädigt. Vom gestrigen Sommerfest ist nichts mehr da. Die Laser-Show, die Bühne der WAVES, das Open-Air-Kino, die Lautsprecher, die Buden, alles ist weg.
Wilhelm Genazino
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Mittelmäßiges Heimweh (2007), Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009), Wenn wir Tiere wären (2011) und Die Liebe zur Einfalt (Neuausgabe, 2012).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1943 geboren in Mannheim
Nach dem Abitur arbeitete er zunächst als freier Journalist, dann als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt bei der Satire-Zeitschrift Pardon.
Studium der Germanistik, Soziologie und Philosophie
seit 1971 ist er als freier Schriftsteller tätig
seit 1990 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt
2004 wurde er in die Bayerische Akademie der Schönen Künste gewählt
2011 wurde der Autor in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen
Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.
Auszeichnungen
2010 Rinke-Sprachpreis
2007 Heinrich-von-Kleist-Preis
2004 Hans-Fallada-Preis
2004 Georg-Büchner-Preis
2003 Kunstpreis Berlin
2001 Kranichsteiner
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