Für immer, Emily (German Edition)
K apitel 1
Es war Montag. Der Wecker klingelte schrill und unangenehm laut. Im Zimmer herrschte ein merkwürdig diffuses Licht, denn draußen war ein trüber, regnerischer Morgen heraufgezogen. Einer, an dem man am liebsten im Bett bleibt.
Emily blinzelte schlaftrunken, schlug mit der rechten Hand nach dem Wecker, sodass er mit einem Brummen verstummte, und zog die Decke über den Kopf. Für sie spielte es keine Rolle, ob der Himmel bewölkt war oder nicht, ob es regnete oder nicht, in ihrem Herzen herrschte seit einigen Monaten sowieso tiefste Dunkelheit. Und sie war sich in jeder Sekunde des Tages und der Nacht bewusst, dass sich diese Dunkelheit nicht vertreiben lassen wollte. Sie würde nicht freiwillig das Feld räumen, dazu saß sie zu tief, und sie hatte eine starke Verbündete: Die Angst ...
Emily verzog unter der Decke das Gesicht. „Die Angst und die Dunkelheit, wie melodramatisch. Lasst mich doch in Ruhe, ich eigne mich nicht zur Dramaqueen. Geht doch endlich weg! Bitte, geht weg!“
Sie schloss die Augen, aber das Beklemmungsgefühl in ihrer Brust würde nicht weichen, sie wusste es. Sie hatte wieder einen schrecklichen Traum gehabt, und die Erinnerung daran hielt sie noch fest im Griff. Diese Träume verblassten nicht, und sie fühlte sich ihnen hilflos ausgeliefert. In solchen Momenten fühlte sie sich unendlich einsam und verlassen, und es schien ihr, als ob es niemanden auf der ganzen Welt gab, der sie jemals verstehen oder ihr gar beistehen könnte. Obwohl, ganz alleine war sie nicht. Sie fühlte, wie jemand versuchte, zu ihr unter die Decke zu gelangen. Sie lächelte und wartete noch einen Moment, während eine feuchte Nase sich zu ihr durchwühlte. Schließlich schlug sie das Federbett zurück. „Ben, du alter Nasenbär. Du denkst, du musst dem Wecker Nachdruck verleihen, was? Okay, okay, ich komme ja schon“, sagte sie lachend.
Emily schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete lächelnd den großen Golden Retriever Rüden, der mit schief gelegtem Kopf vor ihr saß. Sie beugte sich vor und legte beide Hände um seinen Kopf. „Na, mein Pelztier, gut geschlafen?“ Sie drückte dem Hund einen Kuss auf die Nase, und er legte ihr die Pfote aufs Knie. Sie würde schwören, dass Ben lachen konnte. Ihre Eltern behaupteten zwar, das wäre nicht möglich, aber sie wusste es einfach.
Ihre Eltern. Emily seufzte und stand auf, um ans Fenster zu treten. Sie würde am Nachmittag oder Abend ihre Mom anrufen und ihr von dem Tag erzählen müssen. Ihre Eltern hatten sie nur äußerst ungern alleine hierher ziehen lassen, und wenn nicht ihre Tante Dorothy, die Schwester ihrer Mutter, mit ihrer Familie hier leben würde, hätten sie niemals zugestimmt. Ihre Verwandten wohnten nur vier Häuser weiter, und es war ein absoluter Glücksfall gewesen, dass dieses kleine Häuschen hier zur Miete frei gewesen war. Glück im Unglück nannte man das wohl.
Das Häuschen hatte einen kleinen Garten, in dem jetzt die letzten Sommerblumen blühten, und eine kleine Terrasse. Alles war klein und gemütlich, und sie fühlte sich sehr wohl hier. Vor allem, weil es weit weg von dem war, was ihr in ihrer Heimatstadt passierte. Weit weg von ... ihnen .
Und nach allem, was geschehen war, hatten ihre Eltern schließlich schweren Herzens zugestimmt, sie hier einen neuen Anfang wagen zu lassen. Ihre Mutter hatte ihre Schwester angerufen und diese hatte sich sofort einverstanden erklärt, ein wenig auf Emily zu achten. Sie konnte dort essen, wann immer sie wollte, und natürlich auch Zeit mit ihrer Tante, ihrem Onkel und ihren beiden Cousinen verbringen. Die jüngere der beiden, Andrea, war dreizehn und ein ziemlich wilder Wirbelwind, der Emily oft zum Lachen brachte. Aber der wichtigste und liebste Grund für Emily, hierher zu kommen, war ihre Cousine Mara. Die beiden Mädchen hatten schon immer ein sehr enges Verhältnis gehabt, das sich in den letzten Monaten noch intensiviert hatte. Mara war vier Monate jünger als Emily, die jetzt im Oktober achtzehn wurde, und doch war sie es, die mit ihrer selbstbewussten Art der scheuen, schüchternen Emily stets zur Seite stand.
Das kleine Haus, in dem Emily nun wohnte, gehörte einer alten Dame, die ihre Möbel teilweise nicht hatte mitnehmen können zu ihrem Sohn, bei dem sie nun lebte. Sie hatte die meisten Sachen da gelassen, und so war Emilys Umzug recht glimpflich und schnell vonstatten gegangen. Ihre Eltern und ihr Bruder Connor hatten ihr geholfen, und nun
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