Ein Regenschirm furr diesen Tag
halbvollen Gläsern scheint ein einschneidendes Erlebnis zu sein. Es ist mit Händen zu greifen, daß die meisten Besucher das künstliche Leben für das wirkliche halten wollen. Eine an Susanne und mir vorüberziehende Frau schreit ihrem Begleiter ins Ohr: Ich mag es nicht, wenn sich mein Leben in eine Untersuchung meines Lebens verwandelt. Eine andere Frau sagt: Ich hatte überhaupt keine Jugend, weißt du das nicht? Ein Mann bezeichnet sich als monogamen Phantasten und beißt dann in eine Bratwurst. Ein anderer Mann sagt milde zu seiner Begleiterin: Du hast Glück, daß du mich kennst. Susanne schaut mich an und zuckt mit den Schultern. Langsam senkt sich die Abenddämmerung herab. Die WAVES besteigen die Bühne und stimmen ihre Instrumente. Im Open-Air-Kino läuft ein Tom-und-Jerry-Film. Ich mache zahllose Beobachtungen und sortiere die aus, die nicht luftig sind. Vermutlich trete ich heute abend in den großen Stab der Weltfriseure ein. Die Ermahnung folgt sogleich: Meine Güte, du wolltest doch von diesen bombastischen Empfindungen loskommen. Jeder will nur denken, was er für alarmierend hält, weiter ist nichts. Alle arbeiten an der Erfindung des Gefühls, zur Welt zu gehören. Susanne bringt zwei Gläser Sekt. Wir lehnen uns, um Schutz zu finden vor dem Gedröhn der WAVES, gegen die Rückwand einer Steakhütte. Susanne und ich plaudern über unsere Verwunderung, daß die zeitgenössischen Vergnügungen und die zeitgenössischen Menschen immer so gut zusammenpassen.
Warum hat es in den fünfziger Jahren noch keine Laser-Show gegeben, fragt Susanne.
Weil eine Laser-Show in den fünfziger Jahren die Menschen zu sehr an den Krieg und an die Flak erinnert hätte, antworte ich.
Was ist die Flak? fragt Susanne.
Flak ist eine Abkürzung für Fliegerabwehrkanone, sage ich; man hat im Krieg den Himmel mit großen Scheinwerfern nach feindlichen Flugzeugen abgesucht.
Das klingt gut, sagt Susanne, aber ich glaubs trotzdem nicht.
Hast du eine andere Erklärung?
In den fünfziger Jahren war eine Laser-Show deshalb nicht nötig, weil die Weltherrschaft der Langeweile noch nicht so weit fortgeschritten war wie heute, sagt Susanne.
Wir lachen und trinken. Ich muß eine Frau betrachten, auf deren Bluse die Worte HARMONY SYMPHONY MEMORY zu lesen sind. Die Worte ziehen sich handbreitgroß über die Brust der Frau, in Pailletten übereinandergenäht, durch die Bewegungen der Frau immerzu schimmernd und leise raschelnd. Der Chef des Kulturamtes klettert auf die Lichtanlage. Ich freue mich, sagt er, daß es zum ersten Mal in der Stadt ein derartiges LICHTSPEKTAKEL gibt. Beifall. Insgesamt sind fünfzehn Scheinwerfer aufgestellt worden, jeder strahlt vierzig Kilometer weit. Beifall. Insgesamt wird heute abend etwa eine halbe Million Kilowatt Strom verbraucht. Beifall. Rund hundert Speziallampen und ein Dutzend verschiedene Lichtsysteme sind aufgebaut. Beifall. Ich mache mir Notizen. Susanne hält mein Sektglas und schaut mir zu. Die Unruhe über mein fast gescheitertes Leben verwandelt sich in die Aufregung über den gerade noch gefundenen Ausweg. Dabei gelingt es mir nicht, mich mit der Fröhlichkeit und der Erwartung der Menschen innerlich zu verbinden. Ich bin sicher, daß alle diese fröhlichen Leute bei der erstbesten Gelegenheit unbarmherzig sein werden, falls Unbarmherzigkeit plötzlich lohnend erscheint. Ich bin verwickelt in die widerliche Arbeit oder in die Arbeit an der Widerlichkeit oder in die Widerlichkeit des Wirklichen, ich kann diese Momente im Augenblick nicht klar auseinanderhalten. Ich strauchle vor der Arbeit und halte es im Augenblick für möglich, daß ich Messerschmidt morgen anrufe und von seinem Angebot zurücktrete. Ist hier nicht irgendwo ein Abhang mit viel Geröll, wo ich meine Jacke hinwerfen kann? Aber es gibt hier nur Juxbuden, Freßhütten und Kioske, ich muß das Gefühl des Gerölls weiter mit mir herumtragen. Plötzlich entdecke ich einen etwa zwölfjährigen Jungen, der sich auf einem Balkon eine Höhle baut. Zwischen den Eisenstäben des Geländers und zwei Wäschehaken hat er eine Leine gespannt, die er mit Wolldecken behängt. Die Wolldecken befestigt er mit Wäscheklammern, deren Sitz er von Zeit zu Zeit überprüft. Immer wieder verläßt er seinen Bau, geht zurück in die Wohnung und kehrt mit neuen Wolldecken, Tüchern und Kissen auf den Balkon zurück. Zwischendurch schaut er flüchtig auf das Gewühle des Marktplatzes herunter. Der Balkon befindet sich in Höhe des dritten
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