Ein Ring aus Asche
lösten sich allmählich auf und ich wurde eins mit meiner Umgebung. Mit einem Mal nahm ich jede Einzelheit um mich herum wahr: den Atem eines Grashalms, die unmerkliche Erosion eines alten, verwitterten Grabsteins aus Marmor. In Gedanken sang ich einen Zauber, einen, den ich in den letzten zwei Tagen kreiert hatte. Nach Reimen zu suchen hatte ich dabei völlig aufgegeben.
Fesseln der Zeit, zieht mich zurück,
Lasst mich in Erinnerung versinken,
Folgt der roten Linie meines Blutes
Durch die Jahrhunderte,
Frau nach Frau, Mutter nach Mutter,
Leben schenkend, dem Tod erliegend,
Zurück zur ersten, Cerise Martin,
Und zur Nacht von Melitas Stärke.
Zeigt mir, was ich wissen muss.
Noch nie zuvor hatte ich etwas Derartiges getan, noch nie einen so mächtigen Zauber angewandt. Außerdem beschwor ich gerade absichtlich die Erinnerung an eine Person herauf, von der ich wusste, dass sie böse war– Melita Martin, meine Ahnin. In meinen früheren Visionen jener Nacht war ich vollkommen entsetzt gewesen über das, was ich gesehen hatte. Und doch wollte ich mich jetzt freiwillig ein weiteres Mal dorthin begeben. Jeder, der auch nur ansatzweise über ein kleines bisschen Vernunft verfügte, hätte mich für verrückt erklärt. Doch Wissensdurst war Teil des Hexendaseins, ein drängendes Bedürfnis danach, Antworten auf seine Fragen zu finden, eine überwältigende Sehnsucht, so viel wie möglich zu verstehen.
Aber natürlich bestand das Hexendasein auch darin, zu akzeptieren, dass es viele, viele Fragen und Dinge gab, die niemals beantwortet und für immer unbekannt bleiben würden.
Ich begann, mein Lied zu singen, meinen mir eigenen und einzigartigen Ruf nach Kraft. Ich sang sehr leise. Der Friedhof befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Wohngebiet, nicht weit weg von meinem eigenen Haus, und grenzte an vier enge Straßen. Jeder, der hier vorbeilief, konnte mich hören. Ein dünner Rest äußerer Wahrnehmung lenkte mich ab. Noch immer spürte ich das feuchte Gras, auf dem ich saß, und hörte das schwache Schnarren entfernter Grashüpfer.
Vielleicht würde das hier doch nicht funktionieren. Vielleicht war ich nicht stark genug. Vielleicht hatte ich den Zauber falsch angewandt. Vielleicht sollte ich Melita um Hilfe bitten.
Der letzte Gedanke erschreckte mich, ich blinzelte.
Es war sonnig und ich stand inmitten eines kleinen Beets. Mit einer Hand hielt ich meine lange Schürze hoch, sodass sie eine sackartige Mulde bildete, und mit der anderen pflückte ich Tomaten hinein. Ich sah, wie sich fette grüne Tomatenwürmer über einige der Weinreben hermachten. Also hatte mein Anti-Tomatenwurm-Zauber doch nicht funktioniert. Vielleicht sollte ich Melita um Hilfe bitten.
Doch jetzt hatte ich erst einmal genug Tomaten für Mamans Okraschotensuppe. Damit sie nicht herausfielen, raffte ich meine Schürze zusammen und lief in Richtung Küche. Meine nackten Füße spürten die warme Erde, das etwas kühlere Gras, die vielen rauen Austernschalen auf dem kleinen Weg, der zur Scheune führte.
Mein Rücken schmerzte. Mein riesiger Bauch wölbte sich so weit nach vorne, dass ich meine Füße kaum sehen konnte. Noch zwei Monate und das Baby war auf der Welt. Maman hatte gesagt, mein Rücken würde dann nicht mehr wehtun.
Ich hatte gehört, die Engländer blickten erbarmungslos auf Schwangere herab, die nicht verheiratet waren. Da war unser Dorf toleranter. Maman wollte, dass ich Marcel erwählte, meine eigene Familie mit ihm gründete. Doch ich zog es vor, hier in diesem Haus zu bleiben, mit Maman und meiner Schwester. Papa war schon vor langer Zeit gegangen und seitdem hatte es nur uns Frauen gegeben. Und mir gefiel es so.
Ich lief die hölzernen Stufen nach oben ins Hinterzimmer. Wir kochten im Freien, so wie jedermann, doch unsere Küchengerätschaften behielten wir im Arbeitszimmer. Drinnen fand ich Maman und meine Schwester vor.
»Hier.« Ich legte die Tomaten auf den Tisch und ließ mich dann auf einem Holzstuhl nieder, erleichtert, das zusätzliche Gewicht nicht länger mit mir rumzuschleppen.
»Das Baby wird ganz schön groß, was?«, sagte meine Schwester, während sie zu dem Trinkwasserkessel ging, der auf der Bank stand. Sie schöpfte daraus, bis sie eine große Tasse gefüllt hatte, und brachte sie mir. »Arme Cerise.«
»Danke.« Das Wasser war warm, doch gut.
Melita kniete sich vor mich hin und legte ihre Hände auf die harte Wölbung meines Bauchs. Sie lockerte die angespannten Muskeln, ihre
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