Ein seltsamer Ort zum Sterben
– er aus Neuengland, sie aus Chicago –, und lebten in der Stadt zunächst als Besucher, dann als Bewohner und nach vielen Jahren wohl als New Yorker. Nach dem Gottesdienst und dem anschließenden Empfang ging Sheldon allein zu einem Coffeeshop bei ihnen um die Ecke im Gramercy-Viertel. Es war mitten am Nachmittag. Die Mittagessenszeit war vorbei. Die Trauernden waren auseinandergegangen. Sheldon hätte nun sieben Tage Schiwe sitzen sollen, seiner toten Frau zu Ehren, und sich von seinen Angehörigen umhegen, versorgen und Gesellschaft leisten lassen, so wie das Brauch war. Stattdessen saß er in der Coffee and Tea Bar am Irving Place 71 in der Nähe der 19 . Straße, aß ein Blaubeer-Muffin und schlürfte schwarzen Kaffee. Rhea war mit dem Flugzeug zur Beerdigung angereist, ohne Lars, und hatte mitbekommen, dass er sich davongestohlen hatte. Sie fand ihn ein paar Blocks weiter und setzte sich ihm gegenüber hin.
Sie trug einen eleganten schwarzen Hosenanzug, das Haar fiel ihr auf die Schultern. Sie war zweiunddreißig Jahre alt und hatte einen entschlossenen Blick aufgesetzt. Sheldon dachte, sie wolle ihm Vorwürfe machen, weil er sich vor der Schiwe drückte. Als sie dann mit der Sprache rausrückte, spuckte er beinahe eine Blaubeere quer über den Tisch.
«Komm mit uns nach Norwegen.»
«Du kannst mich mal», sagte Sheldon.
«Ich mein’s ernst.»
«Ich auch.»
«Die Gegend heißt Frogner. Es ist wunderschön dort. Im Haus gibt es eine Einliegerwohnung mit separatem Eingang. Du wärst dort vollkommen selbständig. Wir sind noch nicht eingezogen, aber im Winter wird es so weit sein.»
«Du solltest sie an Trolle vermieten. Es gibt da doch Trolle, richtig? Oder war das Island?»
«Wir möchten sie nicht vermieten. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man weiß, dass ständig Fremde unter deinen Füßen herumlaufen.»
«Das kommt daher, dass ihr keine Kinder habt. Ihr werdet euch an das Gefühl gewöhnen.»
«Ich finde, du solltest zu uns kommen. Was hält dich hier denn noch?»
«Abgesehen von Blaubeer-Muffins?»
«Ja.»
«Man fragt sich, wie viel mehr man noch brauchen soll in meinem Alter.»
«Du solltest dir das wirklich überlegen.»
«Was habe ich denn da drüben verloren? Ich bin Amerikaner. Jude. Zweiundachtzig. Witwer in Rente. Ein ehemaliger Marine. Ein Uhrenreparateur. Ich brauche eine Stunde, um zu pinkeln. Gibt es da drüben einen Club für Leute wie mich, von dem ich noch nichts weiß?»
«Ich möchte nicht, dass du einsam stirbst.»
«Jetzt hör aber auf, Rhea.»
«Ich bin schwanger. Es ist noch ziemlich früh, aber es ist so.»
Da nahm Sheldon, an diesem Tag aller Tage, ihre Hand, berührte sie mit den Lippen, schloss die Augen und versuchte, neues Leben in ihrem Puls zu erspüren.
Rhea und Lars wohnten bereits seit fast einem Jahr in Oslo, als Mabel starb und Sheldon sich entschloss, zu ihnen zu ziehen. Lars hatte eine gute Stelle als Spieleentwickler, und sie fasste allmählich als Architektin Fuß. Ihr Diplom von der Cooper Union erwies sich als hilfreich, und da die Bevölkerung Oslos zunehmend in Ferienhäuser und Immobilien im Umland investierte, beschloss sie zu bleiben.
Lars war, wie zu erwarten, überglücklich und konstruktiv und über die Maßen optimistisch ob ihrer Bereitschaft, sich anzupassen und der Herde anzuschließen. Norweger laichen nämlich von Natur aus am liebsten in ihren angestammten Gewässern. Und so wird Oslo von Norwegern bevölkert, die mit einer Schattenpopulation entwurzelter Seelen verheiratet sind, welche allesamt den Blick von Touristen aufgesetzt haben, die man wie Kinder durchs Wachsfigurenmuseum führt.
Mit Unterstützung seiner Eltern hatte Lars 1992 eine hübsche doppelstöckige Wohnung mit drei Schlafzimmern in Tøyen gekauft, die mittlerweile beinahe dreieinhalb Millionen Kronen wert war. Ein nettes Sümmchen für einen Stadtteil, der Sheldon wie die Bronx vorkam. Zusammen hatten sie fünfhunderttausend Kronen angespart, und wenn sie eine Hypothek aufnahmen – eine Hypothek, ja, aber keine riesengroße –, konnten sie sich das Haus mit den drei Schlafzimmern in Frogner leisten, was Sheldons Ansicht nach eher dem Central Park West entsprach. Tøyen war eine etwas miefige Gegend, und Lars und Rhea waren es leid, vergeblich darauf zu warten, dass es schicker würde. Es kamen immer mehr Menschen aus Pakistan und vom Balkan. Somalis hatten den Park des Viertels in Beschlag genommen, um dort ausgiebig Khat zu kauen, der Gemeinderat hatte
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