Ein Stern fliegt vorbei
schlimmste aller Versagen auftrat, nämlich charakterliches Versagen, oder daß sie funkelten, wenn Nadja die Rede eines Vortragenden mit einem Zwischenruf unterbrach, der präzis und überzeugend einen Trugschluß oder auch nur eine gedankliche Ungenauigkeit aufdeckte. Die meisten vertrugen anfangs diese Zwischenrufe schlecht, aber das Ergebnis war stets, daß sie sich zu exakterem Denken zwangen, zu besserer Vorbereitung, und da es überdies in der Arbeitsatmosphäre der Kommission so etwas wie Blamage nicht gab, sahen sie bald den Nutzen solcher Debatte ein und empfanden die Hilfe, die darin lag.
Yvonne hatten diese Zwischenrufe von Anfang an gefallen, sie verlangten und erzeugten geistige Beweglichkeit, gedankliches Schöpfertum. Diese Zwischenrufe waren auch genau das, was sie jetzt brauchte und was sie so jargonhaft als Gedankenwäsche bezeichnet hatte.
„Ich finde keinen Fehler in meinen Gedankengängen und Ableitungen“, sagte Yvonne, nachdem sie in einem der tiefen, bequemen Sessel Platz genommen hatte und ihr Manuskript zurechtlegte, „aber ich habe das Gefühl, etwas stimmt da nicht. Es läßt sich einfach nicht verscheuchen, dieses Gefühl. Und ich fürchte, unsere Gäste bekommen keinen guten Eindruck von uns, wenn wir ihnen statt klarer Gedanken verschwommene Gefühle unterbreiten. Deshalb habe ich Sie um ein kritisches Privatissimum gebeten.“
Dann begann sie vorzutragen. Aber sie las und las, und kein Zwischenruf, keine Unterbrechung kam von Nadja Iwanowna. Yvonne warf einen kurzen Seitenblick auf das Gesicht der Chefin – es war kein Funkeln in ihren Augen, der Kopf war zurückgelegt, das Gesicht zerstreut und nachdenklich. Yvonne las den Abschnitt zu Ende, brach dann ab und wartete.
Es schien, als ob Nadja das gar nicht bemerkte. Dann aber sagte sie: „Ich teile Ihr Gefühl, aber ich finde auch keinen Fehler, ich glaube, wenn es einen gibt, dann muß er in unserer gedanklichen Konzeption stecken.“ Sie lächelte müde, mit einem Ausdruck, den Yvonne noch nie an ihr bemerkt hatte. „Vielleicht bin ich auch ein wenig zerstreut – ich muß Sie dafür um Entschuldigung bitten. Was machen wir nun?“
Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „Lassen Sie uns Vertrauen haben zu unseren Helfern.“
Merkwürdigerweise schien es Yvonne so, als habe sie das mehr zu sich selbst gesagt. Aber Yvonne schrieb diesen Eindruck dem Umstand zu, daß Nadja Iwanowna etwas verstört war. Was war denn los? Statt Kritik an ihrer unfertigen Arbeit eine Entschuldigung? Der Gedanke, daß die Kraft geistiger Durchdringung bei ihrer Chefin an dem gleichen Punkt zu Ende sein könnte wie bei ihr selbst, kam ihr erst gar nicht.
„Ich werde dann also noch das akustische Material vorbereiten“, sagte sie zögernd.
„Ja, bitte, tun Sie das“, antwortete die Chefin, „und sorgen Sie auch für ein wenig Gastlichkeit – wir werden die erste Besprechung bei Ihnen durchführen, ja, das wird das beste sein.“
Yvonne verstand. Sie erhob sich und ließ die Chefin allein.
Nadja Iwanowna Shelesnowa hatte eine der schwersten Arbeiten, die es auf der Erde gab: Ablehnen! Kühne Ideen, großartige Projekte, an denen die Arbeit und das Herz Tausender Menschen hingen, kritisieren und – zwar nicht immer, aber auch nicht selten – ablehnen, wenn die Sicherheitsansprüche der Menschheit ungenügend berücksichtigt waren, ja, bei ganz großen Vorhaben sogar dann schon, wenn ein einigermaßen begründeter Verdacht auf schädliche Folgen bestand. Man könnte glauben, eine solche Arbeit müsse mit der Zeit bitter machen, aber das war nicht geschehen. Trotzdem hatte ihr persönliches Glück darunter gelitten. Vor acht Jahren hatte ihr Mann, ein bekannter Energetiker, ein Projekt vorgelegt, vermittels künstlicher Sonnen das gesamte Klima der Erde zu verändern. Das Projekt mußte abgelehnt werden, weil bei der mathematischen Modellierung der künstlichen Sonnen und ihrer Überprüfung mit den Methoden der Kommission bestimmte Störanfälligkeiten sichtbar wurden, für die es keine zureichende theoretische Erklärung gab. Nach dieser Niederlage, die sie ihm als damalige Leiterin der Modellabteilung zufügen mußte, trennte sich ihr Mann von ihr. Aus Charakterschwäche? Oder weil er für seine Liebe nicht den Preis seiner Arbeit zahlen konnte? Weil der Verlust seiner Idee ihm die Erfüllung in der Liebe vergiftete? Sie wußte es nicht. Die wenigen Gespräche, die sie noch nachdem geführt hatten, waren formal geblieben. Und nun
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