Das schwarze Manifest
ERSTER TEIL
Es war der Sommer, in dem der Preis für einen kleinen Brotlaib auf über eine Million Rubel stieg.
Es war der Sommer der dritten aufeinanderfolgenden Weizenmißernte und des zweiten Jahres mit Hyperinflation.
Es war der Sommer, in dem in den hintersten Winkeln abgelegener Provinzstädte die ersten Russen an Unterernährung zu sterben begannen.
Es war der Sommer, in dem der Präsident in seiner Limousine zusammenbrach, zu weit von ärztlicher Hilfe entfernt, um gerettet werden zu können, und in dem ein alter Raumpfleger ein Schriftstück stahl.
Danach würde nichts mehr so wie früher sein.
Es war der Sommer des Jahres 1999.
Es war drückend heiß an diesem Nachmittag, und der Fahrer mußte mehrmals hupen, bevor der Pförtner aus seiner Loge gehastet kam, um das schwere Holztor des Kabinettsgebäudes zu öffnen.
Der Leibwächter des Präsidenten ließ sein Fenster herunter, um dem Mann zuzurufen, er solle gefälligst nicht schlafen, während der lange schwarze Mercedes 600 langsam unter dem Torbogen hindurch und auf den Staraja Ploschad hinausrollte. Der erbärmliche kleine Mann bemühte sich, militärisch zu grüßen, als der mit vier weiteren Leibwächtern besetzte zweite Wagen, ein russischer Tschaika, der Limousine folgte. Dann waren sie verschwunden.
Auf dem Rücksitz des Mercedes saß Präsident Tscherkassow allein, tief in Gedanken versunken, vorne sein Fahrer von der Moskauer Miliz und sein von der Gruppe Alpha gestellter persönlicher Leibwächter.
Während die zurückbleibenden grauen Moskauer Außenbezirke allmählich in Felder und Wälder übergingen, war der russische Präsident zutiefst bedrückt, wozu er auch allen Grund hatte. Er bekleidete seit drei Jahren sein Amt, in das er als Ersatzmann für den kränkelnden Boris Jelzin gewählt worden war, und diese Jahre, in denen er den Absturz seines Landes ins Elend hatte beobachten müssen, waren die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen.
Damals im Winter 1995, als er noch Ministerpräsident gewesen war – von Jelzin selbst ernannt, damit er als »Technokrat« die Wirtschaft auf Vordermann brachte –, waren die Russen zu den Wahlurnen gegangen, um eine neue Duma, ein neues Abgeordnetenhaus, zu wählen.
Die Parlamentswahl war wichtig, aber nicht entscheidend. In den Jahren zuvor hatte vor allem Boris Jelzin dafür gesorgt, daß immer mehr Macht von der Duma auf den Präsidenten übergegangen war. Im Winter 1995 war der große Sibirer, der vier Jahre zuvor bei dem versuchten Staatsstreich im August 1991 von einem Panzer herunter agierte, als großer Kämpfer für die Demokratie nicht nur die Bewunderung Rußlands, sondern auch des Westens errungen und sich selbst zum Präsidenten aufgeschwungen hatte, nur noch ein Schatten seiner selbst.
Jelzin, der sich von seinem zweiten Herzanfall binnen drei Monaten erholte und durch Medikamente schwammig und aufgedunsen war, verfolgte die Parlamentswahl in einer Klinik auf den Sperlingsbergen, den ehemaligen Leninbergen, nordöstlich von Moskau. Und er mußte erleben, wie seine eigenen politischen Schützlinge auf den Platz der drittstärksten Fraktion in der Duma zurückfielen. Daß dies keine so gravierenden Folgen wie möglicherweise in einer westlichen Demokratie hatte, war vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß dank Jelzin der größte Teil der wahren Macht in den Händen des Präsidenten lag. Wie in Amerika gab es in Rußland eine exekutive Präsidentschaft, aber im Gegensatz zu Amerika fehlte das Geflecht aus Kontrollen und Ausgleichsmaßnahmen, mit dem der US-Kongreß das politische Gleichgewicht zum Weißen Haus herstellen kann. Im Prinzip konnte Jelzin durch Dekrete regieren – und genau das tat er auch.
Aber die Parlamentswahl zeigte immerhin, woher der Wind wehte, und lieferte Hinweise auf den Trend bei der für Juni 1996 angesetzten weitaus wichtigeren Präsidentenwahl.
Die neue Kraft am politischen Horizont war im Winter 1995 – eine wahre Ironie des Schicksals – die Kommunistische Partei. Nach siebzig Jahren kommunistischer Tyrannei, fünf Jahren von Gorbatschows Reformen und fünf Jahren Jelzin begann das russische Volk, sich wehmütig an die gute alte Zeit zu erinnern.
Die Kommunisten unter ihrem Vorsitzenden Gennadi Sjuganow malten ein rosiges Bild von früheren Zeiten: garantierter Arbeitsplatz, sicherer Lohn, preiswerte Lebensmittel und Recht und Ordnung. Unerwähnt blieben der Despotismus des KGB, die Sklavenarbeitslager des Archipel GULAG und die
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