Ein Stiefel voll Glück - Oskar und Mathilda ; 1
Erdboden hatte gezittert und Erdklumpen, Grasbüschel und Gänseblümchen waren kreuz und quer durch die Luft geflogen. Natürlich hatten diese Ereignisse die gesamte vornehme und stets auf Ordnung, Sauberkeit und Ruhe bedachte Nachbarschaft in furchtbare Aufregung versetzt. Mathildas Vater hatte sofort bei der Stadtverwaltung angerufen und den Verdacht geäußert, dass die Detonation in irgendeiner Weise mit dem verrückten alten Herrn nebenan in Zusammenhang zu bringen sei. Doch offensichtlich hatten die Leute vom Amt diesen Hinweis nicht ernst genommen. Denn am nächsten Tag hatte in der Zeitung gestanden, dass in dem beschaulichen Städtchen Vielendorf zum ersten Mal in der Geschichte der Seismografie ein Erdbeben der Stärke vier Komma zwei gemessen worden sei.
Opa Heinrichen hatte Hannibal in aller Seelenruhe beerdigt, und bereits einen Tag später hatte Mathilda die Klappleiter in die viereckige Luke gestellt, die der Holzdeckel in der Decke hinterlassen hatte.
Eine ganze Woche lang war sie damit beschäftigt gewesen, sich einen Überblick über das obere Stockwerk des Gartenhauses zu verschaffen und sich dort ein Geheimquartier einzurichten. Nach Opa Heinrichens Eispickel hatte sie übrigens nicht mehr lange suchen müssen. Er hatte direkt neben der Luke auf dem Dielenboden gelegen.
Von der Stelle aus, an der Mathilda hinter der Buchsbaumhecke lag, hätte sie das gesamte Grundstück von Opa Heinrichen bestens im Blick gehabt, wenn sein Rasen nicht mittlerweile über und über mit Pusteblumen bewachsen gewesen wäre.
Ächzend und stöhnend zwängte Mathilda sich zwischen den Stämmen hindurch auf die andere Seite. Die langen Grashalme kitzelten sie im Gesicht, und während sie sich auf die Knie rappelte, atmete sie den Samen einer Pusteblume nahezu komplett ein. Mit einem lauten Niesen kam sie auf die Füße.
»Ha-ha-hatschiii!«
»Gesundheit«, sagte eine Stimme.
Mathilda fuhr herum. Vor ihr stand ein Junge. Er war einen halben Kopf kleiner als sie, hatte blonde Haare, riesige blaue Augen und drei winzige Sommersprossen auf der Nase.
»Wo kommst du denn her?«, platzte Mathilda heraus.
»Ich stand die ganze Zeit schon hier«, erwiderte er. »Du bist durch die Hecke
gekommen
.«
Mathilda wischte sich ein paar restliche hartnäckige Pusteblumensamen aus dem Gesicht. »Und wieso hab ich dich dann nicht gesehen?«, wollte sie wissen.
»Vielleicht, weil du die ganze Zeit nach unten geguckt hast«, meinte der Junge.
»Hm«, machte Mathilda. »Es ist übrigens völlig normal, dass ich durch die Hecke komme«, erklärte sie ihm. »Ungewöhnlich ist, dass
du
plötzlich hier stehst. Das hast du bisher nämlich nicht getan.«
»Ich bin ja auch gerade eben erst eingezogen«, sagte der Junge.
»Bei Opa Heinrichen?«, rief Mathilda erstaunt.
»Nein, in sein Gartenhaus.«
Na, das war ja ein Ding! Mathilda stemmte die Hände auf ihre Hüften und war bereits drauf und dran, dem Jungen zu erklären, dass er unmöglich in die Laube ziehen konnte, doch zum Glück besann sie sich rechtzeitig.
»Herr Heinrichen ist aber nicht mein Opa«, setzte der Junge unterdessen hinzu. »Außerdem wohnen wir nur vorübergehend hier.«
»Aha«, sagte Mathilda. Das hörte sich ja schon ein wenig erbaulicher an. »Wie lange ist denn vorübergehend? Und wer ist wir?«
»Meine Mutter und ich«, erwiderte der Junge. »Wie lange wir hierbleiben, weiß ich allerdings nicht genau. Ich hoffe bloß …« Er biss sich auf die Unterlippe und sah Mathilda erschrocken an.
»Was hoffst du?«, hakte sie nach.
»Nichts«, sagte er.
»Nichts, worüber du reden willst, meinst du wohl«, brummte Mathilda. »Na ja, schon gut«, sagte sie abwinkend, ehe der Junge etwas entgegnen konnte. »Ich muss ja nicht alles wissen. Schließlich bin ich nicht von der Polizei. Wie du heißt, würde mich aber schon interessieren.«
»Oskar«, sagte der Junge und streckte ihr schüchtern die Hand hin. »Oskar Habermick.«
»Lustiger Name«, meinte Mathilda. Grinsend ergriff sie Oskars schmale Hand und schüttelte sie so heftig, dass sein Arm herumschlackerte. »Ich bin Mathilda von Dommel. Auch lustig, oder?«
Oskar nickte. »Ja«, sagte er, »und du wohnst …«
»Hinter der Hecke«, sagte Mathilda. »Von dieser Seite aus betrachtet zumindest.«
Oskar sah sie irritiert an, dann grinste er ebenfalls. »Kannst du mich vielleicht wieder loslassen?«, fragte er und deutete auf seine Hand.
Erst jetzt fiel Mathilda auf, dass er in der anderen einen
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