Ein Stueck vom Himmel
Genusskletterei ersten Ranges. Unvergesslich wird sie uns vor allem deswegen bleiben, weil sich keiner von uns Gipfelstürmern die seltsamen Gipfelnamen merken konnte. »Wie heißt der Zapfen, auf dem wir jetzt stehen ... Michleckstock?«, fragte Schwanda auf dem Gipfel vom Trotzigplanggstock.
Auf den hohen Bergen vom Berner Oberland lag noch immer viel Neuschnee. Mit dem »Pause« zogen wir weiterhin von Berg zu Berg im Unterland.
»Le Grand Miroir« – der Große Spiegel ist eine 300 Meter hohe Riesenplatte in der Argentine-Nordwand östlich vom Genfersee. »Man schwebt buchstäblich in der Luft, wenn man an dieser silberhell glänzenden, blanken Riesenplatte hängt« – so hatte sie Walter Pause beschrieben.
Welcher Kletterer möchte nicht einmal an silberhell glänzenden Platten höherschweben?
Von unserem Standquartier war es eine weite Fahrt bis zu dieser Platte. Zeitiger Aufbruch, frühstücken wollten wir unterwegs. Dazu kam es nicht. Die Platte zog uns an wie ein Magnet. Stützpunkt für die Riesenplatte war (nach Pause) die Alpe und Hütte Solalex. Dort hofften wir, ein Käse- oder Speckbrot zu bekommen. Doch die Hütte Solalex war mehr als eine Hütte – sie war ein Berggasthof, vor dem an weiß gedeckten Tischen viele Gäste beim Mittagessen saßen. Alle Sitze waren so gestellt, dass die Gäste zwischen Vorspeise und Braten den Kletterern auf dem Großen Spiegel zusehen konnten.
So groß und so glatt hatten wir uns die Platte nicht vorgestellt. Aber ebenso hingerissen waren wir von den Gemüse- und Fleischplatten, die an uns vorbeigetragen wurden.
Wir wählten die steinerne Riesenplatte. Echter Bergsteigergeist? Nicht ganz. Es war Sonntag, und der Wirt hatte schon so viele Anmeldungen, dass wir nicht vor zwei Stunden einen freien Tisch bekommen könnten. Da stiegen wir lieber als hungrige Löwen in die Riesenplatte ein.
Bevor wir loszogen, atmete Schwanda tief aus und ganz tief wieder ein: »Kinder, lasst mich noch einmal diese köstlichen Bratendüfte schnuppern!«
Der große Spiegel: Es ist nun schon einige Jahrzehnte her, seit ich ihn erklettert habe, aber wenn ich an ihn denke, wird die Erinnerung so klar, als ob es erst vor einigen Tagen gewesen wäre.
Der Standhaken steckt bis zum Ring im Fels und er steckt genau an der richtigen Stelle: Mein 40-Meter-Seil ist zu Ende, beruhigt kann ich die Selbstsicherung in den Standhaken einhängen. Straff spannt sich nun das rote Seil entlang einer wie glatt gehobelt aussehenden Plattenwand bis zu Fritzerl, die ebenfalls bei einem Standhaken steht. Von Fritzerl weg spannt sich ein weiteres 40-Meter-Seil bis zu Ernst. Auch er steht noch inmitten der glatt gehobelten Plattenwand. Hinter Ernst klettern Schwanda und Scarpietti als zweite Seilschaft – zwei Fliegen auf einem riesigen Spiegel. Und unter Schwanda und Scarpietti ist die Riesenplatte noch lange nicht zu Ende.
Das ist der Tiefblick, den ich von meinem Standplatz aus habe. Doch auch nach oben gibt es erregende Ausblicke. Mindestens vier oder fünf Seillängen haben wir noch auf der Platte zu klettern. Dann kommen gewaltige Überhänge, die nur in der Mitte eine Bresche aufweisen. Zwischen ihr ragt unsere Riesenplatte direkt in den Himmel. In einer solch faszinierenden Felslandschaft hatte ich mich noch nie befunden, auf einer solchen Riesenplatte war ich noch nie geklettert. So – genau so muss es im Kletterhimmel aussehen!
Der Weg durch den »Großen Spiegel« endet in einer Scharte mit weichen Graspolstern. Herrlich war’s, darauf zu sitzen. Doch nach dem Klettern im Kletterhimmel hatte uns die Erde wieder und ich fragte: »Herrschaften, habt ihr auch so einen narrischen Hunger wie ich?«
Die Herrschaften hatten!
Fritzerl schwärmte von einer Gemüseplatte, Scarpietti von einem Fifty-Fifty-Beefsteak, Schwanda von einem knusprigen Braten. Ernst und ich hatten keine besonderen Wünsche – wir hätten auch gegrillte Autoreifen verspeist, wenn die Portion groß genug gewesen wäre, um unseren Hunger zu stillen.
Doch noch trennte uns ein langer Abstiegsweg (fast 700 m Höhenunterschied) von diesen Genüssen. Allerdings: Scarpietti hatte beim Aufstieg aus der Ferne eine Schlucht gesehen, die schnurgerade zur Alpe Solalex hinabführte: »Eine Direttissima zu den Gemüse- und Fleischplatten, der goldrichtige Weg für uns!«
Aus der Nähe sah die goldrichtige Schlucht grauslich aus. Sie war steil und ihr Fels so brüchig, dass einem die Griffe schon entgegenfielen, wenn man sie bloß
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