Ein Stueck vom Himmel
Erzählte, dass ich am vergangenen Sonntag eine der Erstbegehungen des Hohe-Wand-Pfarrers aus dem Jahre 1915 (»Non-plus-ultra-Steig«) wiederholte und dabei dauernd gedacht hatte, dass der Wildenauer in seinen jungen Jahren ein ganz wilder Hund gewesen sein muss. Davon war der Jubilar so begeistert, dass er von seinem Sitz aufsprang, mir die Hand drückte und dabei sagte, dass wir beide jetzt Du zueinander sagen müssen.
Ich habe Wildenauer dann oft besucht, um von ihm mehr über das Klettern in vergangenen Zeiten zu erfahren. Beispiel: Körperliche Gewandtheit sei ganz wichtig für einen Kletterer. Abwärtsklettern steigert ganz besonders die Beweglichkeit des Körpers. Darum waren die Kletterer von früher auch so begeisterte Abstiegskletterer. Und ich erzählte dann einmal dem Domherrn von meinem Wunschtraum. Ob er mir eine Bewilligung für die Ersteigung meiner Himmelsleiter verschaffen könne?
Er konnte. Es war die Bewilligung für eine Forschergruppe, auf der Turmspitze die Turmschwankungen zu untersuchen.
Ein wilder Sturm brauste über Wien, als sich im Frühjahr 1952 die Forschergruppe am Fuß des Turmes traf. In der noblen Kärntner Straße hatten wir schon viele noble Herren ihren Hüten nachlaufen gesehen ... »Hoffentlich haut uns da oben der Sturm net abi!«, raunzte der Forscher Schwanda.
»Auf einem Kirchturm kann er dich nur in den Himmel aufihaun!«, tröstete ihn Forscher Hansl.
Dreihundertdreiundvierzig Stufen sind es hinauf zur Türmerstube. 1433 war der Turm vollendet und der über die Stadt wachende Türmer in dem Stübchen ist zu einer Altwiener Legende geworden. Wir haben damals noch die letzten Türmer kennengelernt: zwei Männer von der Wiener Feuerwehr. »Euch hat uns der Himmel geschickt!«, sagten sie, als wir uns bei ihnen meldeten. Immer wieder werden sie von Turmbesuchern gefragt, ob die Spitze bei einem Sturm tatsächlich bis zu einem Meter schwanken soll. Mit unseren Untersuchungsergebnissen werden sie es dann den Leuten genau sagen können. (Die Forschergruppe schaute ein bisserl sparsam drein, als sie von den Feuerwehrmännern erstmals hörten, dass die Turmspitze bei Sturm bis zu einem Meter schwankt.)
Von der Türmerstube ging es noch ein kurzes Stück die Wendeltreppe höher. Dann kamen wir ins Innere des Turmhelms. Düster war es hier. Eine alte Holzleiter führte auf eine Bretterplattform. Die Leiter hing in der Mitte durch, und je höher ich stieg, desto mehr begann sie zu schwanken. Auf der Plattform hing an einem Holzgerüst eine staubgraue Glocke ... »Diese Glockn hat ausgelitten, die läutet nimmer!« Kaum hatte Schwanda das gesagt, als plötzlich ein Winseln und Rauschen zu hören war und gleich darauf ein harter metallischer Schlag – so laut, dass er in den Ohren weh tat. Und noch einer und noch einer ... zwölf Uhr war es. Die graue, staubige Glocke hatte schlagend bewiesen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehört. Noch zwei Holzleitern mussten wir ersteigen, dann standen wir vor dem Angstloch – einem schmalen Spalt aus dem Turminneren hinaus ins Freie.
Erst 1954 wurde mit der Restaurierung des Turmes begonnen. 1952 waren aber da oben nur die ärgsten Schäden der Bombardierung wieder behoben worden. Wir zogen das Seil aus dem Rucksack. Dann schlüpfte ich durch das »Angstloch« – und stand hoch über dem Stephansplatz und den Dächern von Wien. Und über mir die Himmelsleiter hinauf zur Turmspitze. In weitem Bogen peitschte der Wind mein Seil durch die Luft.
Bei besonders starken Böen ging auch ein Beben und Zittern durch den Turm. Bisher war ich nur an Eisenleitern hochgestiegen, die an Felsen hingen, die weder gebebt noch gezittert hatten. Immer näher kam ich der Balustrade unter dem Kreuz, wo die Leiter überhängend wird. Dort hatte ich während des Höhersteigens das Gefühl, ich würde jetzt und jetzt mit meinem Körpergewicht das ganze Turmspitzl niederreißen.
Von der Balustrade (mit einem Eisengeländer) kletterte dann jeder von uns allein durch die Kreuzblume hinauf zur Turmkugel unter dem Kreuz.
Bis zu diesem Tag hatte ich Tiefblicke von Felstürmen und aus Steilwänden genossen. Auf dem Stephansturm war alles ein bisserl anders. Da bewegten sich Menschen unten auf dem Stephansplatz hin und her und damals fuhren auch noch Autos kreuz und quer. So viel Bewegung in der Tiefe war ein ungewohnter und die Sinne verwirrender Anblick. Und dazu kam noch, dass ich keinen festen Standplatz hatte – ich spürte es in den Beinen, wie die
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