Ein Tag ohne Zufall
»Willst du denn gar nicht wissen, wo Seth heute Morgen ist, Des?«
Seth ist erst dieses Jahr nach Hedgebrook gekommen. Bloß weil ich bei seiner Ankunft in der Nähe rumgestanden habe und eine Bemerkung über seinen blonden Wuschelkopf gemacht habe, glaubt Mira offenbar, dass ich heimlich in ihn verknallt bin oder so. Was natürlich nicht stimmt, denn damit hätte ich gegen meine persönliche Vorschrift Nummer eins verstoßen, die da lautet: Lass dich bloß auf niemanden ein. Leider kann ich nicht damit aufhören, andere zu beobachten. Ich habe mir angewöhnt, aus der Distanz heraus zu erforschen, hinter welchen Fassaden sich die anderen verstecken, und meinen eigenen Charakter mit ihrem zu vergleichen. Ich versuche mir auszumalen, weshalb sie so sind, wie sie sind, zu begreifen, warum das Leben eines Menschen gewissen Einflüssen unterliegt und das eines anderen nicht. Seth mit seiner entgegenkommenden Art, seinem netten Lächeln ist das Gegenstück zu meiner Distanziertheit, meinen täglichen Berechnungen. Was für unterschiedliche Einflüsse mögen uns beide geprägt haben? Nicht, dass mich das übermäßig beschäftigt. Im Gegenteil, dass er so locker und zu jedem gleich nett und freundlich ist, geht mir unglaublich auf die Nerven, so dass es mir ziemlich egal ist, wo er heute Morgen bleibt, aber Mira scheint auf eine Erwiderung zu warten.
»Na schön, Mira«, sage ich seufzend. »Wo ist Seth?«
Aidan kommt Mira zuvor. »Der hat heute früh Abfalldienst.«
»Was hat er denn angestellt?« Jillian beugt sich vor. Sie scheint Seths Untaten entschieden spannender zu finden als ihr verschrumpeltes Frühstückswürstchen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Mrs Wicket missbilligend den Kopf schütteln, aber sie macht keine Anstalten, Aidan zu bremsen.
Aidan kippelt mit dem Stuhl. »Gestern in Englische Literatur hat Mr Bingham das Fenster aufgemacht und …«
»… und ein Windstoß hat die Blätter von seinem Tisch gefegt …«, fällt ihm Mira ins Wort.
»… und
seine Haare
hochgepustet!«
»Echt? Etwa die Haare über …«
»Ja! Die Haare, die er sich immer über die Glatze kämmt«, bestätigt Aidan. »Die ganze Klasse musste sich das Lachen verbeißen, und dann hat sich Seth gemeldet. Mr Bingham hat ihn aufgerufen, und Seth hat gesagt: ›Äh … ich glaube, die Luke zu ihrem Oberstübchen steht offen, Mr Bingham.‹«
Alle prusten los. Mrs Wicket räuspert sich mahnend.
»Und was hat Bingham gesagt?«, fragt Jillian kichernd.
»
Mr
Bingham«, berichtigt Mrs Wicket sie.
»Was sollte er schon sagen? Er hat die Luke wieder zugeklappt. Und als sich die Klasse wieder eingekriegt hatte, hat er Seth einen Tadel ins Klassenbuch eingetragen und ihn für heute früh zum Abfalldienst verdonnert.«
»Das finde ich unfair.« Jillian nimmt ihr Würstchen in die Hand und beißt ab.
»Es war schließlich im Literaturkurs – Mr Bingham hätte Seth auch für die Metapher loben können«, wirft Ben ein.
»Stimmt, die Metapher war eigentlich gut.«
»Ich finde, Bingham hätte Seth dafür einen Zusatzpunkt geben müssen, oder?«, meint Mira. »War doch ein Kompliment für seinen Unterricht.«
»Ein Zusatzpunkt wäre aber auch nicht fair gewesen.«
»Richtig«, pflichtet Curtis Jillian bei, womit er sich unüberhörbar an der Morgenrunde beteiligt hat.
Mrs Wicket schmunzelt. »Dann esst mal auf. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten.« Wie jeden Morgen, seit ich hier bin, trinkt sie ihren Tee aus, steht auf und klatscht in die Hände.
Als wir den Tisch abräumen, kommt Miss Plunkett mit einem Zettel rein. Miss Plunkett ist neu und kennt noch nicht alle Schüler. »Eben hat jemand angerufen. Es geht um Miss …«, sie schaut auf ihren Zettel, »… Miss Faraday.«
Ich drehe mich um.
Mrs Wicket überfliegt den Zettel und schaut mich an. »Ach herrje, Destiny, es hat jemand für dich angerufen. Anscheinend hat jemand deiner Tante Edie die Reifen vom Auto weggeklaut – alle vier auf einmal. Darum kann deine Tante heute leider nicht kommen, aber …«
Ich stehe auf. Mein Stuhl quietscht über den Boden.
Alle halten inne und drehen sich nach mir um. Sie glotzen mich an, als ob sie drauf warten, dass ich jetzt losheule. Ich muss sie leider enttäuschen.
»Seth hätte es schlauer anstellen sollen«, sage ich und nehme mein Geschirr, die Schüssel und das Glas. »Noch fieser wäre es gewesen, wenn er die Klappe gehalten hätte. Dann hätte Mr Bingham einfach mit dem Unterricht weitergemacht und dabei ausgesehen
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